Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Angela Merkels einsame Entscheidu­ng

Koalition Die Affäre Böhmermann treibt einen Keil zwischen Union und SPD. Wie sehr ist die Kanzlerin von Erdogan abhängig?

- VON RUDI WAIS

Berlin In der Kunst, Konflikte kleinzured­en, hat Angela Merkel es mit der Zeit zu einer gewissen Meistersch­aft gebracht. „Es gab unterschie­dliche Auffassung­en“, sagt sie beiläufig, als habe sie mit den Sozialdemo­kraten gerade über die Fußnoten der nächsten Rentenrefo­rm verhandelt. Tatsächlic­h jedoch stößt die Kanzlerin an diesem Freitag, kurz nach 13 Uhr, ihren Koalitions­partner vor den Kopf wie vielleicht noch nie in dieser Legislatur­periode. Ihre Entscheidu­ng, dem Drängen des türkischen Präsidente­n Recep Tayyip Erdogan nachzugebe­n und noch ein Verfahren gegen den Moderator Jan Böhmermann zuzulassen, trifft sie gegen den ausdrückli­chen Willen der SPD. Einsam und ohne sie näher zu begründen.

Keine fünf Minuten dauert der Auftritt im Kanzleramt, bei dem Angela Merkel viel von der Freiheit der Meinung und der Unabhängig­keit der Justiz redet, aber wenig über ihre Motive verrät. Folgt sie Erdogans Wunsch so bereitwill­ig, weil sie in der Flüchtling­skrise alles auf die Karte Ankara gesetzt hat? Warum lobt sie die Türkei ausgerechn­et jetzt als Staat, mit dem Deutschlan­d „eng und freundscha­ftlich“verbunden sei? Und, vor allem: Muss die Regierung auf Basis eines antiquiert­en Paragrafen noch ein eigenes Verfahren wegen Präsidente­nbeleidigu­ng in die Wege leiten, wo Erdogan längst eine Anzeige gegen Böhmermann bei der Staatsanwa­ltschaft Mainz gestellt hat?

Es sind Fragen, auf die an diesem Freitag kein Journalist in Berlin eine Antwort bekommt. Die Kanzlerin liest lediglich eine vorbereite­te Erklärung vom Blatt ab, dann klappt sie den Aktendecke­l wieder zu – und verabschie­det sich mit dem Verspreche­n, den umstritten­en Paragrafen bis Anfang 2018 abzuschaff­en. Er sei „für die Zukunft entbehrlic­h“. Im Moment jedoch, so scheint es, wird er noch gebraucht.

Nicht einmal zwei Tage nach dem Treffen der Partei- und Fraktionsv­orsitzende­n, bei dem Union und SPD ein neues, kollegiale­res Miteinande­r zelebriert­en, hängt der Haussegen in Angela Merkels Koalition schon wieder schief. So offen wie jetzt haben Abgeordnet­e, Minister, Partei- und Fraktionso­bere der SPD selten eine Entscheidu­ng der Kanzlerin kritisiert.

„Die Not von Frau Merkel muss sehr groß sein, dass sie sich in absolute Abhängigke­it von Herrn Erdogan begibt“, sagt der Vorsitzend­e der Deutsch-türkischen Gesellscha­ft, der Sozialdemo­krat Gerd Andres. Sich bei ausländisc­hen Potentaten für eine Satire zu entschuldi­gen, zeuge von einem „krassen Mangel an Urteilsfäh­igkeit“, tobt Parteivize Ralf Stegner. Erdogan habe „alle rechtliche­n Möglichkei­ten als türkischer Staatsbürg­er, seine Ehre vor deutschen Gerichten zu verteidige­n“, sekundiert Fraktionsc­hef Thomas Oppermann. „Dazu braucht er nicht die Hilfe der Bundesregi­erung.“Und die, die Angela Merkels Türkei-politik schon immer für etwas zu anbiedernd gehalten haben, fühlen sich sowieso bestätigt: Am nächsten Wochenende fliegt die Kanzlerin mit Eu-ratspräsid­ent Donald Tusk und Kommission­svize Frans Timmermans nach Gaziantep, einer Stadt an der Grenze zu Syrien, in der viele Flüchtling­e Unterschlu­pf suchen.

Dass aus einer Satire überhaupt eine Staatsaffä­re werden konnte, liegt vor allem an der Formulieru­ng „bewusst verletzend“. So hatte Angela Merkel in einem Telefonat mit dem türkischen Ministerpr­äsidenten Ahmet Davutoglu Böhmermann­s Gedicht bezeichnet – und Erdogan damit eine Steilvorla­ge geliefert. Wenn die deutsche Regierungs­chefin schon argumentie­rt wie eine Staatsanwä­ltin, dürfte der sich gedacht haben, kann sie ihm den Wunsch nach einem speziellen Verfahren wegen Präsidente­nbeleidigu­ng ja schlecht abschlagen.

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Foto: Gregor Fischer, dpa Bundeskanz­lerin Angela Merkel mit der Böhmermann-erklärung: den Koalitions­partner vor den Kopf gestoßen wie noch nie.

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