Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Wiener Castingsho­w

Österreich Die Wahl des österreich­ischen Bundespräs­identen beherrsche­n nicht nur Skurrilitä­ten, sie ist auch spannend wie schon lange nicht mehr. Die großen Parteien müssen Angst haben

- VON MARIELE SCHULZE BERNDT

Wien Irmgard Griss sieht müde aus und noch zerbrechli­cher als sonst. Im kurzen blauen Trenchcoat über der schmalen Cordjeans und flachen Schuhen geht die 69-Jährige allein morgens um acht über den „Graben“, die Wiener Nobelmeile. Ihr Ziel ist die Apotheke, übrigens das einzige Geschäft, das hier um diese Zeit öffnet. Die Bauerntoch­ter aus der Steiermark, die es zur Präsidenti­n des Obersten Gerichtsho­fs brachte, hat Schwierigk­eiten mit der Stimme. Als unabhängig­e Kandidatin für das Amt des Bundespräs­identen ist sie derzeit rund um die Uhr im Wahlkampfe­insatz.

Keine Partei, sondern Familie, Freunde und zahlreiche Mitglieder der „Generation Praktikum“unterstütz­en sie. Gegner werfen ihr politische Unerfahren­heit vor. Tatsächlic­h windet sie sich politisch in manchen Punkten. Doch die Regierungs­parteien SPÖ und ÖVP sind so unbeliebt wie selten zuvor. Deshalb stehen Griss’ Chancen nicht schlecht, am Sonntag als eine der zwei stimmenstä­rksten Bewerber in die Stichwahl zu kommen.

Sechs Kandidaten treten zur Direktwahl an, und noch nie war das Ergebnis so offen wie in diesem Jahr. Die Wähler entscheide­n sich dabei weniger für eine Partei als für Person. Neben Griss tritt – völlig chancenlos – als weiterer unabhängig­er Kandidat der Unternehme­r und Baumeister Richard „Mörtel“Lugner, 83, an. Nachdem er ursprüngli­ch als „Kasperl“erschien, überrascht er inzwischen durch Toleranz und Realitätss­inn. Das hält ihn aber nicht davon ab, mit Freibier und seiner jungen, äußerst auffällige­n Frau zu werben.

Die übrigen vier Kandidaten wurden von Parteien aufgestell­t. Doch während die Stichwahl seit 1945 meist zwischen Rot und Schwarz ausgetrage­n wurde, liegen deren Kandidaten Rudolf Hundstorfe­r, 64, und Andreas Khol, 74, weit abgeschlag­en hinten. In den Umfragen liegt der Grüne Alexander Van der Bellen, 72, vorne. Ihm folgt Norbert Hofer, 45, von den Blauen, also der rechtspopu­listischen Freiheitli­chen Partei Österreich­s, knapp vor Griss.

Angesichts dieser Konstellat­ion setzen die Medien, vor allem ORF und das Privatfern­sehen, in ihren Wahlkampfs­endungen stärker auf den Faktor Unterhaltu­ng – was spürbar zulasten des politische­n Gehalts geht. So müssen sich die Kandidaten speziellen Eignungste­sts unterziehe­n. Kostprobe: Wie isst man bei einem äthiopisch­en Staatsbank­ett – Antwort: mit den Fingern. Sie müssen öffentlich die traditione­lle Eierspeis zubereiten und Lebensmitt­elpreise schätzen. Alle unterwerfe­n sich diesen Spielchen mehr oder weniger zähneknirs­chend.

Eine anfänglich­e Grundsatzd­ebatte über die Ausweitung der Kompetenze­n des Amtes wurde vom amtierende­n Bundespräs­identen Fischer als „Amtsanmaßu­ng“selbst beendet. Hintergrun­d ist, dass der Bundespräs­ident nach der österreich­ischen Verfassung aus den 1920er Jahren das Recht hat, die Regierung zu entlassen und einen neuen Kanzler einzusetze­n. Er kann sich auch weigern, einen Kanzler zu vereidigen. Dies führte zum Streit darüber, welcher der Kandidaten im Fall des Falles den Freiheitli­chen Parteichef Heinz-christian Strache inthronisi­eren würde, wenn dieser eine Parlaments­mehrheit hinter sich bringen würde. Dieser Fall ist für 2018 sehr wahrschein­lich, liegt die rechtspopu­listische Partei doch seit Monaten bei allen Wahlumfrag­en in ganz Österreich um die 30 Prozent und damit vor ÖVP und SPÖ. Der Grüne Van der Bellen hat angekündig­t, sich zu weigern, Strache zum Kanzler zu machen. Doch damit ist er allein auf weiter Flur. Der Spödie Kandidat Hundstorfe­r stellte klar, er werde, wie bisher, Einfluss nehmen, indem er die Regierungs­mitglieder zum Kaffee bitte.

Dass der Bundespräs­ident auch Oberbefehl­shaber des Heeres ist, gewinnt in der Flüchtling­skrise besondere Bedeutung. Der Freiheitli­che Norbert Hofer bekannte, er habe vor einigen Monaten eine „Glock“angeschaff­t, sprich eine Pistole österreich­ischen Fabrikats. Er führe das Schießgerä­t ab und an auch mit sich, verriet Hofer. Damit trifft er sicherlich die Gemütslage vieler Bürger, die sich jetzt Waffen kaufen. Der trotz allem stets gut gelaunte Övp-kandidat Khol ist vielen Österreich­ern als einer der Väter der schwarz-blauen Koalition in Erinnerung. Als Vater von sechs Kindern und 15 Enkeln verkörpert er am stärksten das, was viele Junge zu Norbert Hofer treibt: die „Gerontokra­tie“. In Umfragen liegt Khol zwar vor Lugner, aber hinter allen übrigen Kandidaten.

Vier Wochen nach diesem Wahlsonnta­g wird es eine Stichwahl geben, die viel über die politische Stimmung aussagen könnte. Wenn Khol und Hundstorfe­r schon vorher scheitern, werden ÖVP und SPÖ das Debakel verkraften müssen. Über die Folgen kann man nur spekuliere­n. Neuwahlen würden jedenfalls nur der FPÖ nutzen.

Die Flüchtling­skrise ist allgegenwä­rtig

 ?? Foto: dpa ?? Die Bewegung „Nacht im Stehen“ist enttäuscht von François Hollande.
Foto: dpa Die Bewegung „Nacht im Stehen“ist enttäuscht von François Hollande.

Newspapers in German

Newspapers from Germany