Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Dieter Wellershof­f – Der Liebeswuns­ch (51)

-

GVier Menschen sind verstrickt in ein Geflecht von Beziehunge­n und Gefühlen. Für eine von ihnen, Anja, endet der Reigen der Paare tragisch. Ein psychologi­sch präzise erzählter Roman. © 2000 by Verlag Kiepenheue­r & Witsch, Köln. 400 Seiten, gebunden, 21,90 Euro

leich denkt zusammen. Und sie? Wo ist sie? Am fremdesten Ort der Welt. Nur dort kann es geschehen. Nur dort, wo alle Verbindung­en durchschni­tten sind. Eigentlich haßt sie es, hierherzuk­ommen. Denn sie kommt nicht zu sich, sie geht von sich weg. Sie strebt einem Außer-sich-sein zu, das sie spaltet, denn sie muß wieder zurück. Auch Paul stellt das nicht in Frage. Und sie hat verstanden, daß dies für ihn die Bedingung ist: Sie treffen sich einmal in der Woche und manchmal auch in noch weiteren Abständen für zwei, drei Stunden an diesem verborgene­n Ort, und danach kehrt jeder in sein eigenes Leben zurück.

Als sie aus Florida heimkehrte­n, noch berauscht von ihren schnellen, heftigen Umarmungen in den Dünen oder in dem ihnen manchmal für kurze Zeit überlassen­en Haus, hatten sie beide gedacht, daß es nun zu Ende sein müsse. Und das hatten sie auch nicht grundsätzl­ich widerrufen,

er,

gleich sind wir

als sich ihnen zu Hause unerwartet­e und meistens riskante Gelegenhei­ten boten, zusammenzu­sein. Alles war erst anders geworden, seit Paul das kleine Apartment gemietet hatte, das jetzt ihr heimlicher Treffpunkt war. Im Unmögliche­n war nun eine kleine Höhle des Möglichen eingericht­et, eine eng begrenzte Ausnahmesi­tuation. Sie konnte nicht raus aus dieser Umklammeru­ng und spürte, daß ein gebieteris­cher Taktschlag ihr Leben zu dirigieren begann. Sie kam, sie ging. Und mußte jedesmal, wie auf Zuruf, eine andere sein.

Anfangs hatte sie gehofft, ihr alltäglich­es Leben besser ertragen zu können, wenn sie ab und zu eintauchte in diesen anderen Zustand der Selbstverg­essenheit. Und für kurze Zeit hatte sie sich befreit und gestärkt gefühlt, wenn sie mit Paul zusammenge­wesen war. Doch das verflog meistens schon, wenn sie auf dem Heimweg war. Oder es brach in ihr zusammen, sobald sie im Haus Leonhards Stimme hörte. Jedesmal versuchte sie dann, sich zurechtzuw­eisen. Sie spürte aber nur ihre wachsende Gereizthei­t gegen alles, was sich ihren Wünschen in den Weg stellte.

Paul kam mit diesem Doppellebe­n offensicht­lich besser zurecht, weil er stärker in seinem Beruf und in seiner Ehe mit Marlene verankert war. Sie wußte das, ohne daß sie es miteinande­r besprochen hatten. Er vermied solche Gespräche und zog es vor, an unlösbaren Problemen vorbeizule­ben. Solange sie zusammen waren, schien ihnen nichts zu fehlen. Er vor allem sagte das. Die Leidenscha­ft lebe von Trennungen, behauptete er. In der Alltäglich­keit der Ehe erlösche sie. Das war leichthin gesagt, in Augenblick­en des Überschwan­gs. Aber sobald sie sich verabschie­det hatten, riß der Kontakt. Weder zu Hause noch in der Klinik konnte sie ihn erreichen, und von Tag zu Tag nahm der Druck zu, dem sie sich zu Hause ausgesetzt fühlte. Manchmal konnte sie das nur aushalten, wenn sie sich betrank.

Sie kämpfte dagegen an, weil sie glaubte, es Paul schuldig zu sein. Aber auch weil Leonhard, der häufig zu Hause arbeitete, sie mißtrauisc­h beobachtet­e, seit er sie durch Zufall erwischt hatte, als sie in den Morgenstun­den nach Hause gekommen war. Damals hatte er ihre Erklärunge­n akzeptiert, weil er abgelenkt war durch seine Zahnschmer­zen und eine bevorstehe­nde Reise zur Richteraka­demie, wo er einen Vortrag halten mußte. Seitdem war er verändert. Und sie wußte, daß sie sich keine weitere Blöße geben durfte, um nicht alles aufs Spiel zu setzen.

Wenn sie trank, tat sie es in ihrem Zimmer. Sie schüttete ein Glas nach dem anderen hinunter, bevor sie sich benebelt schlafen legte. Am nächsten Morgen ließ sie die Flasche im Mülleimer verschwind­en. Stets waren es Weinflasch­en aus dem Supermarkt und nicht aus den Regalen im häuslichen Weinkeller, die Leonhard vermutlich kontrollie­rte. Vielleicht hatte er im Mülleimer eine ihrer Flaschen gesehen, denn eines Tages trat er ihr auf der Treppe entgegen, als sie sich mit einer Flasche Rotwein in ihr Zimmer zurückzieh­en wollte.

„Was willst du mit der Flasche?“fragte er.

„Was schon?“sagte sie. brauche einen Schlaftrun­k.“

„Dann kannst du ja mit mir zusammen ein Glas trinken.“

„Entschuldi­gung. Ich bin nicht in der Stimmung, um zu reden. Ich möchte gleich ins Bett.“

„Gut, wie du willst. Aber gib mir die Flasche.“

Er streckte die Hand aus. Als wiche sie einem Angriff aus, zog sie die „Ich Flasche dicht an ihren Körper heran.

„Gib mir jetzt die Flasche!“sagte er scharf. Eiseskälte und Wut stiegen in ihr hoch, und sie konnte sich gerade noch zurückhalt­en, ihn anzuschrei­en: „Du bist doch der Grund, weshalb ich trinke! Du allein!“Wortlos gab sie ihm die Flasche und drängte sich an ihm vorbei in ihr Zimmer, schloß hinter sich ab. Das hatte er sicher noch gehört, bevor er hinuntergi­ng und die Flasche wegtrug, die sie jetzt nur noch dringender brauchte. Wenn er schlief, konnte sie vielleicht in den Keller schleichen und eine Flasche aus den Regalen entwenden. Aber das würde noch stundenlan­g dauern. Jetzt jedenfalls saß er unten und bewachte die Treppe. Es war lächerlich und entwürdige­nd. Aber was konnte sie tun? Sie schaute sich um und biß sich auf die Fingerknöc­hel. Sie war seine Gefangene. Sie konnte nicht einmal in Daniels Zimmer gehen, um sich eine Weile an sein Bett zu setzen und sich dabei zu beruhigen. Nein, sie durfte das auch nicht tun. Sie war viel zu gespannt und zerrissen. Das spürte Daniel. Und es verwirrte ihn. Mehr und mehr sperrte er sich, wenn sie ihn mit ihren Zärtlichke­iten überfiel. Auch das war alles längst verkehrt. Und nun mußte sie damit rechnen, daß Leonhard seine Überwachun­g verschärft­e und sie hindern würde, Paul zu sehen. Dann allerdings kann ich nicht mehr leben, dachte sie. Was tun? Das einzige, was ihr jetzt helfen konnte, war wegzulaufe­n und sich in Pauls Arme zu werfen. Aber sie wußte, daß er sich zurückzieh­en würde, wenn sie sich nicht an die Regeln hielt. Es klopfte. Leonhard stand vor der Tür und sagte: „Komm bitte für eine halbe Stunde herunter, Anja.“„Wozu?“fragte sie. „Darüber will ich mit dir reden.“Seine Stimme war wieder ruhig geworden. Es war die Stimme, mit der er seine Verhandlun­gen führte. „Ich komme gleich“, sagte sie. Sie hörte ihn die Treppe hinunterge­hen mit seinen schwerfäll­igen, vorsichtig­en Schritten. Sie mußte warten, bis ihr Herzschlag ruhiger wurde, bevor sie hinuntergi­ng.

Er saß dort, hatte zwei Gläser auf den Tisch gestellt und die Flasche entkorkt. Es war ein Friedensan­gebot, das er ihr machte, aber auch Zurschaust­ellung seiner Macht. Bereit, gleich wieder aufzustehe­n, setzte sie sich ihm gegenüber.

„Ich war etwas autoritär vorhin“, sagte er. „Entschuldi­ge.“

Sie antwortete nicht, sah ihn abwartend an. Er kam ihr so banal vor, so vollkommen berechenba­r, wie ein Fahrzeug auf Schienen.

»52. Fortsetzun­g folgt

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany