Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Fragwürdiger Grenzwert
Meldonium Dopingsünder hoffen auf Gnade. Experten schütteln den Kopf
Berlin Ratlosigkeit unter den Athleten, Verwirrung bei den Verbänden, scharfe Kritik von Experten – und am Ende Dutzende Meldoniumfälle ohne Sanktionen? Dreieinhalb Monate vor Olympia steckt die Welt-anti-doping-agentur (Wada) tief in einem hausgemachten Dilemma. Die obersten Saubermänner des internationalen Leistungssports haben mit Grenzwerten in Bezug auf die verbotene Substanz eine fragwürdige Rolle rückwärts vollzogen. Die bisher ertappten „Sünder“können nun auf Gnade und Straffreiheit hoffen.
Doch so ein Freispruch zweiter Klasse hätte einen bitteren Beigeschmack. Von 172 positiven Proben mit dem ominösen und in der Wirkung umstrittenen Herzmedikament hatte Wada-präsident Craig Reedie am Mittwoch gesprochen. Da kannte der Chef Fall Nr. 173 noch nicht: Auch die ukrainische Leichtathletin Anastasia Mochnjuk wurde positiv auf die seit dem 1. Januar 2016 verbotene Substanz Meldonium getestet.
Für die Wada könnte die Kursänderung noch unangenehme Folgen haben, sollten Sportler wegen ihrer vorübergehenden Suspendierung Schadensersatzansprüche geltend machen. Die prominentesten Athleten in diesem Kreis sind Tennisstar Maria Scharapowa und der fünffache Eisschnelllauf-weltmeister Pawel Kulischnikow. Auch die beiden Russen wurden vorübergehend suspendiert, wie allen anderen steht ihnen das Recht auf Anhörung zu. Aufgrund einer noch geheimen Pilotstudie hatte die Wada ihre Regularien in Bezug auf Meldonium gelockert – viereinhalb Monate nach Inkrafttreten der neuen Verbotsliste.
Bei einem Wert von unter einem Mikrogramm pro Milliliter hätten Athleten künftig nichts zu befürchten. Bei Ausschlägen zwischen 1 und 15 wären weitere Untersuchungen fällig. Eine sehr geringe Konzentration könnte dafür sprechen, dass die Substanz schon im Vorjahr eingenommen wurde, als Meldonium noch gar nicht verboten war. Aus diesem Grund sind am Freitag die vorläufig verhängten Sperren von 14 Athleten aus Russland und Georgien wieder aufgehoben worden. Dies betrifft acht russische Sportler – Leichtathleten, Bahnrad-, Bob- und Skeletonfahrer – sowie sechs georgische Ringer. „In ihrem Blut wurde weniger als ein Mikrogramm Meldonium gefunden“, sagte der Vizepräsident der georgischen Anti-doping-agentur, Temuri Ukleba. Die Zäsur der Wada kam reichlich spät, offenbar haben Wissenschaftler ihre Hausaufgaben nicht gut erledigt. Auch den Dopingexperten Fritz Sörgel regt das mächtig auf. „Wenn es einen Grund gibt, eine Amnestie in Erwägung zu ziehen, dann den, dass die Wada einer Fehleischätzung unterlag und ihren Job wieder mal nicht richtig gemacht hat“, sagt der Pharmakologe aus Nürnberg. Die von der Wada festgelegte Konzentration sei „völlig willkürlich“. Es habe schon seit einiger Zeit wissenschaftliche Untersuchungen gegeben, „die belegen, dass die Substanz nicht lange im Körper bleibt“. (dpa)