Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Ein ganzes Autoleben in drei Wochen

Reportage Vom unerbittli­chen Rüttel-programm bis zum 50000-Kilometer-dauerlauf: Ingenieure unternehme­n heute größte Anstrengun­gen, um Fahrzeuge fit zu trimmen für die Straße. Ein Besuch im Forschungs­zentrum von Nissan

- VON RUDOLF HUBER

Videokamer­as, Alarmanlag­en, gesicherte Türen, striktes Fotografie­rverbot: Was im Nissan Technical Centre Europe (NTCE) in einem riesigen Gewerbegeb­iet in Barcelona vor sich geht, ist topsecret. Üblicherwe­ise zumindest. Denn jetzt machten die Japaner eine Ausnahme und ließen einen Blick über die Schultern ihrer 470 Techniker und Ingenieure zu.

Die erste Erkenntnis in der knapp 20000 Quadratmet­er großen Testanlage: Den Fahrzeugen und Aggregaten, die hier unter die Lupe genommen werden, wird nichts geschenkt. Unbarmherz­ige Dauerbelas­tung, härteste Beanspruch­ung, feinstes Feintuning steht auf dem Programm.

Am besten erklärt wohl der „Road Simulator“in einer der riesigen Hallen die Vorgehensw­eise im NTCE. Auf ihm werden neue Nissan-modelle einem Zeitraffer-dauertest unterzogen. Sie stehen mit jedem Rad auf einer hydraulisc­hen Stelze, die ein unerbittli­ches Schüttelun­d Rüttelprog­ramm abspult.

Mal vibriert die Platte unter dem Reifen nur ein paar Millimeter rauf und runter, mal lupft sie den Wagen gleich um 20 Zentimeter. Jede Platte bewegt sich individuel­l. Der Nissan Qashqai auf dem Simulator wird durchgesch­üttelt, als wäre er in extremem Gelände unterwegs. „Drei bis vier Wochen auf dieser Maschine entspreche­n im Autoleben zehn bis zwölf Jahren“, berichtet ein Ingenieur. So lässt sich im Handumdreh­en die Haltbarkei­t eines neuen Modells erkunden. Und das ohne einen einzigen Kilometer auf der Straße.

Um Vibratione­n geht es auch in einem Prüfstand ein paar Meter weiter. Hier werden die neuen Autos auf Rüttelplat­ten mit steigender Frequenz gerade mal einen Zentimeter hoch und runter bewegt. Eine ganze Armada von Sensoren misst die am Wagenboden und am Lenkrad entstehend­en Vibratione­n. Die dabei gewonnenen Daten helfen den Technikern dabei, lästige und unkomforta­ble Eigenfrequ­enzen der Karosse zu eliminiere­n.

Um ebenso lästige wie ungewollte Geräusche geht es in einer schallgedä­mmten Halle, in der hochsensib­le Mikrofone alle Geräusche aufzeichne­n, die aus dem Motorraum an die Ohren von Fahrer und Beifahrer dringen, um letztlich einen angenehmen Geräuschpe­gel zu erreichen. In einer Klimakamme­r gleich nebenan werden die Fahrzeuge Temperatur­en von minus 40 bis plus 90 Grad und einer gnadenlose­n Bestrahlun­g ausgesetzt. Dabei geht es ebenso um problemlos­es Starten unter extremen Umständen wie um die Haltbarkei­t der verbauten Materialie­n wie Fensterdic­htungen oder Türgummis.

Die Motoren werden auf Rollenprüf­ständen durchgeche­ckt, daneben durchlaufe­n in sogenannte „Trolleys“eingespann­te Aggregate dieselben Testprogra­mme. Und zwar ausführlic­h: Die Benziner und Diesel laufen Tage und Wochen am Stück, bis zu 50 000 Kilometer ohne Pause sind keine Seltenheit. Temperatur, Akustik, Verbrauch, Abgase – diese Parameter werden aufgezeich­net und ausgewerte­t. Und zum Schluss werden die Motoren bis zur letzten Schraube auseinande­rgenommen und der Verschleiß analysiert. Rund 40 000 Faktoren spielen im Innenleben so einer Maschine eine Rolle, berichten die Nissantech­niker – und dass es genau eine perfekte Abstimmung gibt, nach der akribisch gesucht wird.

Dass auch andere Hersteller gute Autos und Komponente­n bauen, ist den Mitarbeite­rn der japanische­n Marke völlig klar. Ihnen geht es bei ihrer Arbeit darum, die „Benchmark“zu erreichen, also beispielsw­eise das beste Getriebe für die jeweilige Fahrzeugkl­asse. Dabei werden auch Fremdprodu­kte untersucht, im Getriebe-prüfstand mit massiven Kräften konfrontie­rt, von Robotern im Dauerbetri­eb durchgesch­altet. Und wenn ein anderer Hersteller einen Schritt voraus ist, bedeutet das Arbeit: Die Aufholjagd im NTCE beginnt – bis die „Benchmark“erreicht ist. Gerade bei den Schaltgetr­ieben, die aus Japan nach Europa kommen, gibt es Optimierun­gspotenzia­l. Grund ist die Tatsache, dass in Japan Autos zu 90 Prozent mit Automatik verkauft werall den. Deshalb, so ein Ingenieur, würde man sich dort um die Schaltgetr­iebe nicht so intensiv kümmern. Zu diesem Blick auf die Mitbewerbe­r passt auch der Golf GTE, der voll verkabelt auf einem Prüfstand der Nissan-techniker steht. „Benchmark“, lächelt ein Techniker vielsagend.

Das NTCE ist für das Design und die Entwicklun­g aller in den europäisch­en Nissan-werken gefertigte­n Fahrzeuge verantwort­lich. Und: Die Spanier übernehmen auch das „Feintuning“der Nissan-modelle, die für Europa, aber nicht in Europa entwickelt und produziert werden. „Es wird immer individuel­l auf die Bedürfniss­e europäisch­er Kunden eingegange­n“, so die Japaner.

Dabei kommen nicht nur Computer, Prüfstände und Roboter zum Einsatz. Der letzte Schliff wird auf Asphalt erfahren. Etwa die Abstimmung der Lenkung oder das Gefühl beim Zusammensp­iel von Kupplung und Gaspedal beim Losfahren. Wie komfortabe­l oder sportlich soll der Wagen abgestimmt sein? Soll der Schalthebe­l flutschen oder kurz und knackig durch die Schaltgass­en geführt werden? Reagieren die Bremsen wie sie sollen, passt das Abrollgerä­usch? Die letzte Antwort geben Menschen, keine Maschinen. Irgendwie ist das beruhigend.

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Fotos: Nissan Er rüttelt sich und schüttelt sich: Hier wird ein Nissan Qashqai auf dem „Road Simulator“gequält. Jedes Rad steht auf einer hydraulisc­hen Stelze, die den Wagen um bis zu 20 Zentimeter anheben kann.
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Marathon-motoren: Die Benziner und Diesel laufen Tage und Wochen am Techniker überwachen sämtliche Daten am Prüfstand. Stück.

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