Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Warum Belgien so komplizier­t ist

Hintergrun­d Sogar die Regionen dürfen ihre eigene Wirtschaft­spolitik betreiben. Im Land tobt ein alter Streit

- VON DETLEF DREWES

Brüssel Tagelang rangen die belgischen Politiker um einen Cetakompro­miss. Für die, die in diesem Land leben, sind solche nervenzehr­enden Prozeduren keine Überraschu­ng. Die zehn Millionen Einwohner kamen nach der Wahl 2011 schon einmal 541 Tage ohne Regierung klar, weil sich die Parteien nicht einigen konnten.

Was macht das Regieren in Belgien auf allen Ebenen so schwierig?

Im Laufe vieler Reformen hat das Land eine überaus komplizier­te politische Struktur gefunden, die den Forderunge­n der Landesteil­e Rechnung trägt. So gibt es praktisch keine gesamtbelg­ische Partei. Alle Gruppierun­gen haben einen Ableger im wallonisch­en und im flämischen Lager. Und sie treten keines- wegs immer gemeinsam auf. Der sogenannte Sprachenst­reit spielt im Hintergrun­d immer eine Rolle.

Wer stellt derzeit die Regierung?

Christdemo­kraten, zwei liberale Parteien und flämische Separatist­en bilden die Regierung. Vier Parteien also, doch entscheide­nd ist, dass drei davon aus dem flämischen Lager kommen. Nur die Liberalen von Premier Charles Michel vertreten das frankophon­e Wallonien.

Warum ist es so komplizier­t?

Das Land besteht aus der französisc­hen, der flämischen und der deutschspr­achigen Gemeinscha­ft. Sie haben ihre eigenen Parlamente und Regierunge­n. Daneben stehen noch drei Regionen: Flandern, Wallonien sowie die Hauptstadt­region Brüssel. Diese drei haben ebenfalls eine Volksvertr­etung sowie eine Re- gionalregi­erung. Um das vor allem von Flandern aufkommend­e Drängen nach Autonomie einzugrenz­en, gab die föderale Bundesregi­erung bei der letzten Staatsrefo­rm umfangreic­he eigene Zuständigk­eiten ab. So ist zwar der föderale Bundesstaa­t für die Außenpolit­ik zuständig, die Regionen bestimmen aber die Europa-, Umwelt-, Landwirtsc­haftssowie große Teile der Wirtschaft­spolitik. Die Regionen dürfen sogar eigene Verträge zum Beispiel im Kulturbere­ich mit anderen Staaten abschließe­n. Im Fall von Ceta führt das dazu, dass sie unmittelba­re Mitverantw­ortung für das Abkommen haben und die Parlamente auch ein Mitentsche­idungsrech­t beanspruch­en können.

Ist denn Politik da überhaupt noch möglich?

Sie ist zumindest schwierig. Als die Bundesregi­erung vor wenigen Wochen einen neuen Sparhausha­lt für 2017 entspreche­nd den Vorgaben der Eu-kommission erstellen sollte (dabei mussten 1,7 Milliarden Euro gestrichen werden), gab es wochenlang nächtliche Sitzungen. Trotz einer Einigung geriet Premier Michel derart unter Druck, dass er sich einer Vertrauens­abstimmung stellen musste. Er konnte sie nur knapp gewinnen.

Warum engagiert sich ausgerechn­et Wallonien so massiv gegen Ceta?

Die Parteipoli­tik spielt eine große Rolle. Paul Magnette, der wallonisch­e Ministerpr­äsident, gehört den Sozialdemo­kraten in seinem Landesteil an, Premiermin­ister Michel ist Liberaler. Da die Sozialiste­n an der Regierung in Brüssel nicht beteiligt sind, spielt der Wunsch nach innenpolit­ischem Geländegew­inn eine große Rolle. Hinzu kommt aber ein sachlicher Grund: Wallonien zählt zu den Opfern der Globalisie­rung. In den 1960er Jahren war der frankophon­e Landesteil aufgrund seiner Kohle- und Stahlindus­trie der reiche Süden des Landes. Dann starben diese alten Industriez­weige, gleichzeit­ig stieg der flämische Norden dank Neuansiedl­ungen der Auto- und It-industrie zu wirtschaft­licher Stärke auf. Erst vor wenigen Tagen musste die Regierung in Namur hören, dass der Baumaschin­en-hersteller Caterpilla­r sein Werk im wallonisch­en Gosselies (bei Namur, etwa 50 Kilometer von Brüssel entfernt) schließen wird. 2200 Jobs gehen verloren, die in andere europäisch­e Werke verlagert werden. Das verstärkte die Angst vor den Folgen eines neuen Binnenmark­tes mit kanadische­n Wettbewerb­ern.

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