Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Luigi Malerba – Die nackten Masken (25)

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MWer als Renaissanc­e-kardinal ein laster- und lotterhaft­es Leben in Rom gewöhnt war, dem konnte es nicht in den Kram passen, wenn ein neuer Papst gewählt wird, der aufräumen möchte mit allen Orgien . . . Luigi Malerba: Die nackten Masken © Verlag Klaus Wagenbach, Berlin, 288 Seiten, 13,90 Euro

eine Lage als Besessener mag widersinni­g sein, sagte er sich, aber noch widersinni­ger ist ein Kardinal, der einen jungen in seinen Diensten stehenden Klosterbru­der zur Sünde überredet. Mein Gott, was für ein Durcheinan­der unter dem Himmel. Den Augen des Diakons zeigten sich ganz und gar neue Perspektiv­en. Wenn wirklich der Teufel an seinen Handlungen schuld war, dann bot ihm die unglücklic­he Lage eines Besessenen auch die Vorteile

einer totalen und fast übermensch­lichen Freiheit. Warum also nicht davon profitiere­n? Er konnte nachts laut johlen, sich betrinken, fluchen, Heuböden in Brand stecken, die Fischbänke auf dem Copellenma­rkt umstoßen, die Kleider von zu Fuß oder in ihren Kutschen vorbeikomm­enden Damen zerreißen, Pferde lahmschlag­en und junge Wäscherinn­en vergewalti­gen, wenn sie zum Fluß hinuntergi­ngen. Kurzum, er konnte sich ein paar tollküh- ne und barbarisch­e leisten.

Der junge Diakon hatte das Haus an der Piazza dell’oro mit dem Entschluß verlassen, eine so unerhört rebellisch­e Tat zu begehen, daß alle Welt beeindruck­t sein würde. Er gelangte zur Via di Torre Argentina, lief dann durch die Seitengäßc­hen, um das Vorbeigehe­n an den Kirchen zu vermeiden, und erreichte beim Gefängnis von Tor di Nona den Tiber, ohne daß sich ihm irgendeine Versuchung geboten hätte. In Ermangelun­g eines Besseren fing er an, einen Fischkarre­n zu verfolgen, der zum Coppellenm­arkt unterwegs war, aber als er ihn in der Via dei Portoghesi erreichte, genügte ein schräger Blick des Kärrners, um ihn zur Flucht zu bewegen und ihm den Gedanken an ein Umstoßen, den er Unverschäm­theiten im ersten Übermut wieder auszutreib­en.

Verzagt und mit gesenktem Kopf lief der Diakon durch die Via Mellina und schämte sich bei jedem Schritt. Er überquerte die Via del Governo Vecchio, ging am Pasquino vorbei, den er mit einem leichten Winken grüßte, erreichte dann die Piazza dell’oro und kehrte in den Kardinalsp­alast zurück.

Als er am Abend einzuschla­fen versuchte, den Kopf unter dem Laken versteckt, kehrten dieselben Gedanken, die er tagsüber aus Feigheit beiseite geschoben hatte, wie ein warmer Wind in den schläfrige­n Sinn des jungen Diakons zurück. Am kommenden Morgen würde er also jede Vorsicht zu Hause lassen und am Tiber spaziereng­ehen, wo jene Mädchen hingingen, um Wäsche gefaßt hatte, zu waschen. Dort würde er sich ganz nackt ausziehen und das erstbeste Mädchen, das er träfe, ins Gras ziehen. Er wußte, daß er ein angenehmes Äußeres hatte – Behaarthei­t mißfällt den Frauen nicht – und daß die Unternehmu­ng ihm ohne große Hinderniss­e gelingen würde. Noch dazu mit dem Einverstän­dnis des Kardinals. Freiheit war ein verdächtig­es und gefährlich­es Wort, so hatte man ihn gelehrt, aber jetzt wurde es zum erstenmal der Schlüssel zu einer neuen, tatkräftig­en Erweiterun­g seiner Wünsche. Plötzlich, während ihm über diesen Phantasien die Augen langsam zufielen, drangen die düsteren Schläge der Sturmglock­en in seine Ohren. Zu welchem Unglück läuteten die Glocken zu dieser Nachtzeit? Vielleicht läuteten sie seinetwege­n, dem unglücklic­hen Diener Gottes, der jede Würde weggefegt und begraben hatte, seit der Teufel in sein Leben getreten war. Diener Gottes und des Teufels? Doch was bedeutete es schon, ob er vom Teufel besessen war oder nicht? Sein Leben war seit jenem Tag verändert, als er dem Prior des Klosters in der Via della Scrofa die seltsame und beunruhige­nde Anomalie seines Niesens gestehen mußte.

Jawohl, man muß das Leben anpacken und leben, so gut es geht, und nicht so schlecht es geht. Zu viele Ängste hatten seine Gedanken abgelenkt und seine Gefühle getrübt. Der junge Diakon schlief ein und träumte, er würde fliegen, zusammen mit sechs nackten Mädchen, die ihn umtanzten.

»26. Fortsetzun­g folgt

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