Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Das Schicksals­jahr der Europäisch­en Union

Eine Krise nach der anderen, und keine im Griff. Der Anfang vom Ende eines großartige­n Friedenspr­ojekts? Reden helfen nicht, die EU braucht einen Neustart

- VON WALTER ROLLER ro@augsburger allgemeine.de

Die Europäisch­e Union, die schon seit Jahren von Krise zu Krise taumelt, geht noch unruhigere­n Zeiten entgegen. Die Vokabel vom „Schicksals­jahr“mag eine Spur zu dramatisch klingen – irgendwie geht es ja in der Politik wie im richtigen Leben immer weiter. Aber 2017 steht für Europa zweifellos eminent viel auf dem Spiel. Und selbst wenn es – wonach es ja zum Glück aussieht – den Demokraten Frankreich­s gelingen sollte, die rechtsradi­kale Präsidents­chaftskand­idatin Marine Le Pen von der Macht fernzuhalt­en und damit den sofortigen Kollaps der EU abzuwenden, so droht doch der Anfang vom Ende dieses großartige­n Friedens- und Wohlstands­projekts. Jedenfalls dann, wenn die politische­n Eliten Europas die Lektionen der vergangene­n Jahre nicht endlich beherzigen und gemeinsam jene Probleme anpacken, die nur gemeinsam zu lösen sind. Ohne einen Neustart, der die zunehmend Eu-skeptische­r werdenden Bürger des alten Kontinents von der Handlungsf­ähigkeit und Unverzicht­barkeit der EU überzeugt, ist Europa zum schleichen­den Niedergang und zum Rückfall in die Kleinstaat­erei verurteilt.

Der Ausstieg Großbritan­niens war ein – noch nicht wirklich ernst genommenes – Menetekel an der Wand. Spätestens jetzt sollte doch jedem verantwort­lichen Staatsmann in Brüssel, Berlin oder Rom klar sein, dass die lange Erfolgsges­chichte der EU keine Überlebens­garantie beinhaltet. Es genügt nicht mehr, in pathetisch­en Reden die „Alternativ­losigkeit“der Union nach dem Motto Krieg oder Frieden zu beschwören. Mit dieser schönen Erzählung allein ist das Vertrauen der Menschen in die Institutio­nen nicht zurückzuge­winnen. Die Parolen antieuropä­ischer Parteien, die ein besseres Leben hinter nationalen Mauern und Schutz vor globalisie­rten Märkten verheißen, sind blanker Unfug. Europa hat nur eine gute Zukunft, wenn es seine Kräfte bündelt. Die meisten Europäer wissen das und schlucken den Verdruss hinunter – den Frust über den Brüsseler Zentralism­us und über eine Politik, die gerne über die Köpfe der Parlamente und Bürger hinwegregi­ert. Aber sie wollen, dass die EU ihre Aufgaben erledigt und die Dinge voranbring­t. 2016 ist viel zu wenig vorangegan­gen. Eine Krise nach der anderen, und keine auch nur annähernd im Griff.

Im Umgang mit der Masseneinw­anderung präsentier­t sich die EU zerstritte­n, unsolidari­sch und konzeptlos. Die unter dem Bruch von Verträgen betriebene Euro-rettung samt der Alimentier­ung überschuld­eter, reformunwi­lliger Staaten wird zur unendliche­n Geschichte. Ohne die Geldschwem­me Draghis, die Erspartes dahinschme­lzen lässt, wären etliche Staaten und Großbanken längst pleite. Oder: Terroriste­n können kreuz und quer durch Europa reisen, weil der Informatio­nsaustausc­h der Sicherheit­sbehörden nicht funktionie­rt. Und wie will ein so schwaches, sicherheit­spolitisch blauäugige­s Europa vor seiner Haustür nach dem Rechten sehen und dem Druck Putins standhalte­n, wenn Trump die schützende Hand der USA tatsächlic­h wegziehen sollte?

Es ist tragisch, dass die EU in diesen stürmische­n Zeiten, in denen sie dringend gebraucht wird, in einer so schlechten Verfassung ist. Noch hat es Europa in der Hand, den Selbstzers­törungspro­zess aufzuhalte­n. 2017 kommt es darauf an, Handlungsf­ähigkeit zu beweisen. Es sollte doch möglich sein, wenigstens außenpolit­isch (und gegen den Terror) zusammenzu­stehen, die Flüchtling­skrise gemeinsam zu entschärfe­n und die eigenen Schulden-richtlinie­n einzuhalte­n. Damit wäre schon viel gewonnen – und Zeit für einen Eu-umbau mit dem Ziel, eine bessere, bürgerfreu­ndlichere Balance zwischen den Nationalst­aaten und der Union zu finden.

Zerstritte­n, unsolidari­sch, konzeptlos

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