Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
„Ruck Rede“des österreichischen Kanzlers
Hintergrund Der Sozialdemokrat Kern geht in die Offensive. Konflikte sind unausweichlich
Wien Die Inszenierung ist ausgeklügelt: ein rundes rotes Podium in der Mitte einer Halle, darauf ein Kanzler im schmalen schwarzen Anzug mit braun-blau gestreifter Krawatte und einer 145-Seiten-broschüre in der Hand. Sie enthält seinen „Plan A“für Austria, in Abgrenzung zum „Plan B“: Neuwahlen, die der Koalition oft prophezeit werden. In Wien wird bereits von einer „Ruckrede“des Regierungschefs gesprochen.
Das Ganze findet in Wels in Oberösterreich statt, wo die rechtspopulistischen Freiheitlichen den Sozialdemokraten gerade das Amt des Bürgermeisters abgenommen haben. 1500 Zuhörer sind zunächst skeptisch, applaudieren gegen Ende der zweistündigen, eher sachlichen Rede ihres Bundeskanzlers Christian Kern aber begeistert.
Die Sozialdemokraten wissen, dass sie an Kerns Programm nicht vorbeikommen, das eine Art „Agenda 2010“für Österreich sein kann. Am Anfang steht – für regierende Politiker durchaus untypisch – eine Entschuldigung an die Adresse der abtrünnigen Wähler: „Wir haben unseren Weg verlassen. Es ist nicht eure Schuld. Es ist unsere“, sagt er. „Von heute an werden wir unseren Kurs wechseln.“Österreichs hohe Arbeitslosigkeit steht im Mittelpunkt. Bis 2020 sollen zweihunderttausend neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Dazu sei ein Staat nötig, der „unternehmerisch denkt“, so der ehemalige Bahn- und Strommanager Kern. Die Steuerund Abgabenquote müsse gesenkt werden. Um 8,5 Milliarden Euro Mehrausgaben zu finanzieren, nennt er Ersparnis durch weniger Arbeitslose, eine Erbschaftsteuer für Vermögen von mehr als einer Million sowie die Besteuerung von Großkonzernen wie Starbucks, das 2014 in Österreich nur 814 Euro Steuern gezahlt habe.
Bis 2020 soll ein Drittel der Gesetze und Verordnungen gestrichen werden, die Unternehmen daran hindern, neue Arbeitsplätze zu schaffen. Österreich soll zur „Gründernation“werden, unter anderem durch die Förderung von Start-ups mittels staatlicher Garantien für Risikokapital. Mit niedrigen Energiepreisen soll um Unternehmen im Ausland geworben werden.
Die erste Kröte, die Kern seinen Gewerkschaften vorsetzt, ist die Ausweitung der täglichen Arbeitszeit. Die zweite bekommen die Sozialversicherungsträger serviert. Sie sollen ihre 3,5 Milliarden Euro Rücklagen zur Verfügung stellen, um das „Mehrklassensystem im Gesundheitssektor zu beseitigen“. Für umstrukturierte Universitäten mit besserer Förderung will Kern zwar keine Studiengebühren, aber Aufnahmeprüfungen. Nach der Volksschule soll jeder Schüler ein Tablet erhalten, auf dem die Schulbücher gespeichert sind, später einen Laptop. Für Langzeitarbeitslose über 50 kündigt Kern eine Job-garantie an. Angebotene Stellen dürfen nicht abgelehnt werden. Ein Mindestlohn von 1500 Euro brutto soll verpflichtend sein, Arbeitskräfte aus Euländern, die Dumpinglöhnen erhalten, sind inakzeptabel.
Für Flüchtlinge müsse eine Obergrenze gelten, die sich daran orientieren soll, wie viele Menschen integriert werden könnten. Da die Volkspartei als Koalitionspartner bei ihrer Fraktionsklausur am selben Tag die Halbierung der bestehenden Asylobergrenze auf 17000 gefordert hat, wird es hier zu Verhandlungen kommen müssen. Zu anderen Fragen äußerte sich die Övp-führung positiv. Parteichef Mitterlehner forderte Kern auf, die neue Obergrenze mitzutragen. Die Große Koalition in Wien blockiert sich seit Jahren gegenseitig. Das soll nach Vorstellung Kerns ein Mehrheitswahlrecht verhindern. Die stärkste Partei soll nach einer Wahlrechtsänderung automatisch mit der Regierungsbildung beauftragt werden und im Parlament zusätzliche Mandate bekommen. Eine verfassungsändernde Mehrheit dafür dürfte allerdings im Parlament schwer zu bekommen sein.