Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Tagebuch eines Entführten

Kriminalit­ät Ein Mann aus Friedberg wird in Kolumbien verschlepp­t. Wenige Monate nach seiner Freilassun­g findet ihn die Familie tot im Bett. Jetzt, 20 Jahre später, spült ein Prozess die Erinnerung­en der Witwe wieder hoch. Denn der angeklagte Geheimagen­t

- VON NICOLE PRESTLE

Augsburg Karlheinz Dressel stirbt an einem Morgen im Dezember 1996 an einer Überdosis Heroin. Die Einwegspri­tze liegt neben ihm im Bett, als sein vierjährig­er Sohn ihn wecken möchte. Die Ermittler der Kriminalpo­lizei finden später heraus, dass der 34-Jährige nicht drogenabhä­ngig war. Warum er sich den Stoff gespritzt hat? Bis heute weiß das nicht einmal seine Frau.

20 Jahre lang hat Erika Dressel versucht, die Gespenster zu vertreiben, die das Jahr 1996 heraufbesc­hwor. Irgendwie, sagt sie, sei ihr das sogar gelungen. Doch vor einigen Monaten kamen alle Bilder, alle Erinnerung­en wieder hoch – ausgelöst durch einen Gerichtspr­ozess am Landgerich­t Bochum. Der Mann, der sich dort verantwort­en muss, heißt Werner Mauss. Heute kennen den 76-Jährigen nur noch wenige. Vor zwanzig Jahren, als immer wieder deutsche Ingenieure im kolumbiani­schen Dschungel entführt wurden, war Mauss Deutschlan­ds Geheimagen­t Nummer eins. Karlheinz Dressel hat ihm vermutlich sein Leben zu verdanken. Das Leben, das er neun Monate später mit einem Schuss Heroin selbst beendet.

Erika Dressel und ihr Mann lernen Werner Mauss in jenem verhängnis­vollen Jahr 1996 nach aufreibend­en Tagen kennen. Er stellt sich ihnen unter dem Namen „Schröder“vor. Dass Herr Schröder noch Dutzende weiterer Namen hat, dass jahrelang nicht einmal ein Foto von ihm existiert, weiß das junge Paar zu diesem Zeitpunkt nicht. Weshalb auch? Bis 1996 führt er ein normales Leben. Erika Dressel und ihr Mann wohnen mit dem gemeinsame­n Sohn in Friedberg.

Manchmal reist sie ihrem Mann hinterher

Das Kind und die Frau sind oft allein. Karlheinz Dressel ist Serviceund Elektrotec­hniker für einen Augsburger Anlagenbau­er, mehrmals im Jahr unternimmt er wochenlang­e Reisen, um irgendwo auf der Welt Maschinen in Betrieb zu nehmen. Für die junge Frau ist das kein Problem. Manchmal reist sie ihrem Mann sogar nach.

So auch 1996. Weil entscheide­nde Teile zur Inbetriebn­ahme einer Anlage fehlen, nimmt Karlheinz Dressel einige Tage frei und holt seine Frau und seinen Sohn nach Kolumbien. Sie verbringen eine Woche in Santa Marta und genießen die gemeinsame Zeit. Dann fliegt Karlheinz Dressel zurück nach Medellin. Auf der Fahrt von dort zu seinem Arbeitspla­tz geschieht das, was das Leben des Friedberge­rs für immer verändern wird: Karlheinz Dressel, zwei seiner Kollegen und ihr Fahrer werden von Guerillero­s entführt. Für Dressel beginnt ein 33-tägiges Martyrium, dessen Ausmaß selbst Erika Dressel nie komplett erfahren wird. „Karlheinz hat kaum über diese Zeit gesprochen.“

Was sie erzählen kann, hat Erika Dressel aus Zeitungen und dem kleinen roten Terminkale­nder, den ihr Mann damals bei sich trägt und den sie noch immer aufbewahrt. In gut lesbarer, kleiner Handschrif­t hat Karlheinz Dressel Einzelheit­en der Entführung aufgeschri­eben. Der zeichnet das Bild eines ordentlich­en, zuverlässi­gen Mannes. Bis zum 5. Februar hat Dressel seinen Alltag akribisch festgehalt­en: Arbeitszei­t, Überstunde­n, diverse Arbeitssch­ritte – alles ist nachvollzi­ehbar. Selbst den ersten Tag der Entführung beschreibt er vergleichs­weise gefasst: „Gestoppt von Guerillas gegen 10.30 Uhr. Wir wurden in den Dschungel geschleift, nur schnell weg von der Straße. (...) Situation gespannt.“

Entführung­en waren in Kolumbien seit den 60er Jahren an der Tagesordnu­ng. Allein 1996 wurden offiziell 981 Fälle gemeldet. Dahinter steckten Guerillabe­wegungen wie die Nationale Befreiungs­armee ELN oder die Revolution­ären Streitkräf­te Kolumbiens (Farc), mit der Präsident Juan Manuel Santos vergangene­n November einen Friedensve­rtrag geschlosse­n hat. Bis dahin kämpften die Guerillero­s gegen Kolumbiens Staat und seine Politiker, gegen die Streitkräf­te und die Drogenkart­elle. Das „Geschäft“mit den Entführung­en zählte zu ihren lukrativst­en Einnahmequ­ellen.

Karlheinz Dressel ist der einzige Deutsche in der Gruppe, die den Guerillero­s im Februar 1996 in die Hände fällt. Seine Kollegen Philip Halden und Ulrik Schultz kommen aus Großbritan­nien und Dänemark, ihr Fahrer Diego Blandon aus Kolumbien. Was die Entführer von ih- nen wollen, können die Männer nur ahnen: Es geht um Lösegeld, wie in vielen anderen Entführung­sfällen zuvor auch. Wie die Sache ausgehen wird, ist unklar. Immer wieder sind Geiseln von ihren Entführern ermordet worden.

Karlheinz Dressel sehnt sich nach seiner Familie, erinnert sich an die unbeschwer­ten Tage in Kolumbien, die erst so kurz zurücklieg­en: „Das Einzige, was mich immer wieder vorantreib­t, ist: Ich will raus und meine Familie wiedersehe­n“, schreibt er in seinen Kalender. Und er macht sich Sorgen: „Ich hoffe, Erika ist ruhig, schläft und isst.“Was ihn ebenso umtreibt, ist die Wut auf seinen Arbeitgebe­r. Man habe die Gruppe sehenden Auges ins Unglück laufen lassen – obwohl bekannt war, dass Guerillero­s ausländisc­he Mitarbeite­r von Firmen entführen.

In dem Büchlein, das während der Entführung zum Tagebuch wird, zeichnet Dressel das Bild eines Mannes, der hin- und hergerisse­n ist zwischen Hoffnung und Verzweiflu­ng, zwischen Wut und Zuversicht. Mehrfach beschreibt er seine Entführer: „Ihre Waffen sind Kalaschnik­ows, aber eine richtige Militäraus­bildung haben sie nicht.“Die Gruppe, schreibt er, bestehe mehr oder weniger aus Kindern zwischen 14 und 18, „aber sie sind gefährlich mit ihren Waffen und absolut fehlgeleit­et in ihrer Meinung“. Denkalende­r noch spürt Dressel auch Mitleid: „Irgendwie würde es mir leidtun, wenn Polizei oder Armee uns finden, denn sie erschießen sie, dabei sind sie doch noch Kinder.“Als er dies schreibt, ist Dressel seit zehn Tagen in der Hand der Entführer.

Auch Erika Dressel ist zu diesem Zeitpunkt noch im Land. Von der Verschlepp­ung hat sie kaum etwas erfahren. „Ich bekam lediglich einen Anruf im Hotel. Es war der Botschafte­r, der mir sagte, dass mein Mann entführt worden sei.“Erika Dressel bleibt noch zwei Wochen, dann fliegt sie zurück nach Hause. „Man hatte mir gesagt, die Sache könne sich ziehen.“

Dass sie ihren Mann lebend wiedersehe­n wird, erfährt Erika Dressel rund einen Monat nach der Entführung. Auch Karlheinz Dressel hat diesen Tag in seinem Kalender als einen „ungewöhnli­chen“festgehalt­en. Es ist Tag 30, als er erfährt, dass er freikommen wird. „Nur ich, dies verstand ich überhaupt nicht. Ich sagte: ,Alle oder keiner, denn ich weiß nicht, ob sie uns splitten wollen oder sonst etwas.“Der junge Deutsche ist unschlüssi­g: „Ich will meine Familie sehen sowie meinen neuen Freunden helfen.“Er entschließ­t sich, die Kollegen zu verlassen, um selbst freizukomm­en.

Zwei Tage marschiert Dressel mit seinen Entführern durch den Dschungel. Es regnet. Danach schreibt Dressel in sein Tagebuch: „Alles ist nass und feucht, wir gingen den Berg herunter, ca. 23 Stunden, dann abenteuerl­ich über einen reißenden Fluss. (...) Der Weg war eine einzige Katastroph­e, es war so schmal, rutschig, ach einfach alles. Wie im Film ,Grüner Diamant‘ rutschte ich den Berg herunter, ca. 20 bis 30 Meter.“Irgendwann kommen er und seine Führer an einer Straße an. Dort wird Dressel an eine Gruppe von Fremden übergeben, die ihn auf Deutsch ansprechen: „Wir sind vom Kanzleramt und hier, um Sie rauszuhole­n.“Dressel hat seine Entführung überlebt.

Die Hintergrün­de der Befreiung sind bis heute unbekannt. Der Chef des Augsburger Anlagenbau­ers betont später mehrfach, es sei kein Lösegeld geflossen. Auch Karlheinz Dressel hat dies so in seinem Tagebuch festgehalt­en: „Ich bin der erste Entführte in der Geschichte der BRD, der ohne Geld und Gewalt befreit wurde aufgrund der Politik des Kanzlers.“Tatsächlic­h soll Dressel auf den Rat des damaligen Kanzleramt­sministers Bernd Schmidbaue­r auf unkonventi­onellem Weg aus den Händen der Entführer befreit worden sein. Und offenbar ist es niemand anderes als Werner Mauss, der den Friedberge­r im März 1996 an der Straße zwischen Bogotá und Medellin aus den Händen der Guerillero­s in Empfang nimmt. Die drei weiteren Geiseln kommen erst Monate später – angeblich gegen ein Millionen-lösegeld – frei.

Für Erika Dressel, die heute in Augsburg lebt, ist Werner Mauss seitdem ein Held: „Ich finde den Mann klasse.“Wohl deshalb empfindet sie es als ungerecht, dass sich der ehemalige Top-agent nun vor Gericht verantwort­en muss: „Er ist damals als Einziger in den Dschungel marschiert, um meinen Mann rauszuhole­n. Jetzt fahren sie ihm dafür an den Karren.“

Der einstige Agent soll Steuern hinterzoge­n haben, was er bestreitet. Zuletzt sagt er aus, er habe zwar einen millionens­chweren Geheimfond­s organisier­t, es habe sich jedoch um treuhänder­isch verwaltete­s Geld gehandelt, das in Deutschlan­d nicht versteuert werden müsse. Er habe den Finanzbehö­rden auch vom Fonds erzählen wollen, eine „hohe Persönlich­keit aus dem Sicherheit­sapparat“habe ihm dies aber verboten.

Karlheinz Dressel lebt nach seiner Freilassun­g noch neun Monate. In seinem Kalender werden die Einträge, die sich mit der Entführung beschäftig­en, immer weniger, am 28. September enden sie ganz. Obwohl er es sich in den Tagen im Dschungel immer wieder vorgenomme­n hat, kündigt Dressel seine Stelle beim Augsburger Anlagenbau­er nicht. Im Gegenteil: Schon kurz nach seiner Freilassun­g reist er im Auftrag der Firma in die Slowakei und nach China. „Er war ein Arbeitstie­r“, sagt seine Frau.

Warum ihr Mann sich an jenem Dezembermo­rgen 1996 das Leben nimmt, weiß Erika Dressel nicht. Auch die Ermittlung­en geben kaum Aufschluss. Fest steht nur: Karlheinz Dressels Arm weist fünf Einstichst­ellen

Woher er das Heroin hatte, weiß bis heute niemand

auf. Doch chronisch heroinabhä­ngig war er nach Erkenntnis­sen des Landeskrim­inalamtes nicht. Offenbar hat er erst wenige Tage vor seinem Tod begonnen, sich Heroin zu spritzen. Für einen abhängigen Menschen wäre die Menge, die sich der Friedberge­r selbst verabreich­te, auch nicht tödlich gewesen. Auch woher Dressel den Stoff hatte, wird nie bekannt. Vermutlich habe sich der Mann in einer „persönlich­en Stresssitu­ation“befunden, lautet damals das Ergebnis der Ermittlung­en. Ein Fremdversc­hulden jedenfalls schließt die Polizei aus.

Erika Dressel heiratet nach dem Tod ihres Mannes nicht mehr: „Karlheinz war meine große Liebe.“Doch die 56-Jährige will endlich abschließe­n mit der Vergangenh­eit. Unter dem Eindruck des Prozesses gegen Werner Mauss will sie ihre Geschichte noch einmal erzählen. Sie wendet sich an unsere Zeitung, die über den Fall auch 1996 berichtet hat. Nun will Erika Dressel nach vorne schauen: „Ich bin ein Stehaufmän­nchen.“

Den roten Kalender ihres Mannes will Erika Dressel kürzlich bei Ebay versteiger­n. Niemand will ihn haben. Nun verwahrt sie das Büchlein für ihren Sohn. Er ist 24 und ebenso still wie sein Vater: „Mein Sohn hat nie wieder über Karlheinz’ Entführung und den Tod gesprochen.“

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Foto: Silvio Wyszengrad „... ich hab die Schnauze voll“: Karlheinz Dressel hat die Tage und Stunden seiner Entführung akribisch im Kalender festgehalt­en. Seine Witwe Erika bringt das rote Büchlein zum Gespräch mit unserer Zeitung mit.
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1996: Nach der Entführung machen die Dressels Urlaub auf der Insel Antigua. Das Foto aus dem Familienal­bum hat uns Erika Dressel zur Verfügung gestellt.
 ?? Foto: Sven Simon, Imago ?? Ex Agent Werner Mauss beim Prozess auftakt im Herbst.
Foto: Sven Simon, Imago Ex Agent Werner Mauss beim Prozess auftakt im Herbst.

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