Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Die Chronik der verpassten Chancen

Hintergrun­d Der Fall Amri beschäftig­te über viele Monate deutsche Sicherheit­sbehörden in Nordrhein-westfalen und Berlin. Auch aus Nordafrika gab es Warnungen. Doch der Terrorist konnte nicht rechtzeiti­g gestoppt werden

- VON SIMON KAMINSKI

Augsburg Ein Puzzle scheint dagegen wohlstrukt­uriert: Der Fall Amri hat viele Stränge, die sich kreuzen und wieder trennen. Mit bis zu 14 verschiede­nen Identitäte­n ist der Mann aus Tunesien auf seiner Tour durch Europa unterwegs, bevor sein Leben am Tag vor Heiligaben­d auf dem kalten Asphalt des Mailänder Gewerbegeb­iets Sesto San Giovanni endet – erschossen von einem italienisc­hen Polizeibea­mten bei einer Ausweis-kontrolle. Vier Tage zuvor, am 19. Dezember, hatte Anis Amri einen Lastwagen in den Weihnachts­markt an der Berliner Gedächtnis­kirche gesteuert. Zwölf Menschen starben.

Jetzt hat das Bundeskrim­inalamt in einer gestern auf der Homepage des Justizmini­steriums veröffentl­ichten Chronologi­e zusammenge­tragen, was der Islamist nach Erkenntnis­sen der Polizei und der Sicherheit­sbehörden in den Monaten vor dem Anschlag getan hat. Aber auch, was die Behörden unternomme­n oder eben versäumt haben, um Amri zu stoppen. Als Amri im Sommer 2015 nach Deutschlan­d einreist, er schon lange das Gegenmodel­l eines Flüchtling­s, der voller Hoffnungen auf ein neues Leben im Sehnsuchts­ort ist. In Italien war er 2011 wegen Körperverl­etzung und Brandstift­ung zu vier Jahren Haft verurteilt worden. Doch davon erfahren die deutschen Behörden zunächst nichts.

Amri lässt sich unter verschiede­nen Namen in Karlsruhe, Nordrhein-westfalen und Berlin als Asylsuchen­der registrier­en. Im November gibt es erste Hinweise darauf, dass der Mann die Nähe von Sympathisa­nten des Islamische­n Staates sucht und gefährlich sein könnte. Amri hatte einem Vertrauens­mann (V-mann) des Landeskrim­inalamtes NRW erzählt, er wolle in Deutschlan­d „was machen“. Augenschei­nlich gelingt es diesem V-mann, das Vertrauen Amris zu gewinnen. Nach Medienberi­chten hat der Informant den Tunesier sogar mit dem Auto nach Berlin mitgenomme­n und mit ihm unbefangen über viele Themen gesprochen.

Am 16. Dezember 2015 ist der Verdächtig­e Thema einer Bka-besprechun­g. Auf Anfrage teilen die italienisc­hen Behörden mit, dass es sich um den Tunesier Anis Amri, Jahrgang 1992, handeln könnte.

Eine verdeckte Überwachun­g legt den Verdacht nahe, dass Amri Vorbereitu­ngen für einen Raubüberfa­ll in Berlin trifft. Die dortige Generalsta­atsanwalts­chaft verwirft am 29. Januar 2016 jedoch die Anregung der Polizei, ein Strafverfa­hren zu eröffnen. Wenige Tage später liegt der Name Anis Amri zum ersten

Die Abschiebun­g scheitert an fehlenden Papieren

Mal dem Gemeinsame­n Terrorismu­sabwehrzen­trum (GTAZ) vor. Ergebnis der Erörterung: Ein „schädigend­es Ereignis“durch Amri sei „eher auszuschli­eßen“.

Das scheint das LKA in NRW anders zu sehen. Es stuft Amri am 17. Februar als „Gefährder“ein. Dieser Begriff aus dem Polizeirec­ht kennzeichn­et eine Person, die nach Ansicht der Polizei eine unmittelba­re Gefahr für die Öffentlich­keit darstellt. Folgericht­ig wird Amri in Berlin vier Tage lang intensiv überwacht. Doch augenschei­nlich ohne schwer belastende Resultate. Erist neutes Fazit auf einer Sitzung des GTAZ: Eine Gewalttat oder gar ein Anschlag durch Amri sei „eher unwahrsche­inlich“. Dennoch stuft auch das LKA Berlin Amri, der sich ohne Anmeldung in der Hauptstadt aufhält, als Gefährder ein.

Dann ein neuer Verdacht: Ein am 23. März eingeleite­tes Strafverfa­hren der Generalsta­atsanwalts­chaft Berlin wegen der Beteiligun­g Amris an einem Tötungsdel­ikt wird von Observatio­nen und einer Telefonübe­rwachung begleitet.

Ende April beantragt Amri erneut unter falschem Namen beim nordrhein-westfälisc­hen Landratsam­t Kleve Asyl. Der Antrag wird zwei Monate später als offensicht­lich unbegründe­t verworfen. Doch die Abschiebun­g scheitert daran, dass keine Papiere aus Amris Heimat Tunesien vorliegen. Am 30. Juli wird Amri festgenomm­en: Diesmal ist er mit gefälschte­n Papieren in einem Bus Richtung Schweiz unterwegs.

Doch auch diese Chance, Amri dauerhaft durch Abschiebeh­aft aus dem Verkehr zu ziehen, wird nicht genutzt. Er wird am 1. August entlassen und erhält Mitte August sogar eine Duldung, die für einen Monat ausgestell­t wird. Am 21. September stellt die Generalsta­atsanwalts­chaft Berlin das Verfahren wegen der Beteiligun­g an einem Tötungsdel­ikt ein. Die Behörde merkt an, dass die Überwachun­g keine Verdachtsm­omente hinsichtli­ch der Vorbereitu­ng eines islamistis­chen Anschlags ergeben habe. Er fällt lediglich durch kleinere Drogengesc­häfte auf. Allerdings erhält das BKA Mitteilung­en von den Behörden aus Marokko, die am 14. Oktober gebündelt an das LKA in NRW weitergege­ben werden. Demnach sei Amri Anhänger des IS, dem er sich anschließe­n wolle. Außerdem verfolge er in Deutschlan­d, das er „Land des Unglaubens“genannt habe, ein nicht näher beschriebe­nes „Projekt“.

Ende Oktober scheint eine Abschiebun­g Amris plötzlich in greifbarer Nähe. Interpol in Tunesien bestätigt dessen Identität. Doch die deutschen Behörden erhalten die zur Abschiebun­g benötigten Papiere erst am 21. Dezember – also zwei Tage nach Amris Bluttat von Berlin. Noch am 2. November befasst sich das GTAZ letztmalig mit dem Terroriste­n. Fazit: „Kein konkreter Gefährdung­ssachverha­lt erkennbar.“

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