Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Das grausame Gesetz der Gefängnisse
Revolte Es ist ein tödlicher Kampf zwischen Drogenbanden. Seit Jahresbeginn wurden schon über 100 Häftlinge in Brasilien ermordet. Warum keine Ruhe zu erwarten ist
Natal Bei neuen schweren Kämpfen zwischen rivalisierenden Gangs sind in einem brasilianischen Gefängnis mindestens 26 Menschen ums Leben gekommen. Die Identifizierung der Opfer sei schwierig, weil die meisten Leichen geköpft und verstümmelt worden seien, teilten die Sicherheitsbehörden des Bundesstaats Rio Grande do Norte am Sonntag mit.
Zu den blutigen Auseinandersetzungen war es gekommen, nachdem Gangmitglieder am Samstag in den Bereich einer anderen Bande eingedrungen waren. Am Sonntag stürmte die Militärpolizei im Morgengrauen die Haftanstalt Alcaçuz im Nordosten des Landes. Auf Fotos war zu sehen, wie die Spezialkräfte die Häftlinge nackt in einer Reihe aufstellten und kontrollierten. Gestern dann besetzten Häftlinge das Gefängnisdach. Auf einer Fahne stand geschrieben: „Wir wollen Frieden, aber wir laufen nicht vor dem Krieg davon.“
Die Kämpfe zwischen den Banden Primeiro Comando da Capital (Erstes Kommando der Hauptstadt) und Sindicato do Norte (Syndikat des Nordens) wurden offenbar von Gangmitgliedern außerhalb der Haftanstalt unterstützt. Kurz zuvor hätten Männer Waffen über die Mauer geworfen, sagte die Präsidentin der Gewerkschaft der Justizvollzugsbeamten, Vilma Batista, der Zeitung Außerdem wurde vor Beginn der Auseinandersetzung der Strom abgestellt. Primeiro Comando da Capital, kurz PCC, ist die größte kriminelle Organisation des Landes und hat ihre Hochburg in der Metropole São Paulo. Das Sindicato do Norte kämpft um die Kontrolle des Drogenhandels im Nordosten des Landes.
Im Bundesstaat Paraná erschossen am Sonntag Beamte der Militärpolizei zwei Häftlinge auf der Flucht. Zuvor waren 30 Gefangene aus der Haft getürmt, als mutmaßliche Bandenmitglieder die Gefäng- nismauer von außen sprengten. „Es handelte sich um eine geplante Aktion. Die Polizei ermittelt, wer an dem Fluchtplan beteiligt war, und versucht, die geflohenen Häftlinge wieder festzunehmen“, sagte der Sicherheitschef des Bundesstaats, Wagner Mesquita.
In den zwei Wochen seit Anfang dieses Jahres kamen bei Kämpfen in brasilianischen Gefängnissen schon mehr als 100 Menschen ums Leben. Kriminelle Banden ringen um die Kontrolle des Drogenhandels. Zudem sind die Haftanstalten extrem überfüllt. Nach Angaben des Justizministeriums sitzen 622 000 Häftlinge in Gefängnissen mit einer Gesamtkapazität von nur 372 000 Plätzen ein. „Das System ist schon lange überlastet. Das Problem hat sich mit jeder Regierung verschärft“, sagte Justizminister Alexandre de Moraes im Fernsehen. „Uns fehlen fast 300 000 Haftplätze. Das hat das System in ein Pulverfass verwandelt.“Staatspräsident Michel Temer rief angesichts der jüngsten Ereignisse die Sicherheits- und Justizminister der Bundesstaaten heute zu einer Krisensitzung zusammen.
In den vergangenen zehn Jahren stieg die Zahl der Häftlinge in Brasilien nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) um 85 Prozent. Vor allem die restriktive Drogenpolitik mit Freiheitsstrafen selbst für Konsumenten hat demnach die Zahl der Gefangenen in die Höhe schnellen lassen. Nach den USA, China und Russland ist Brasilien das Land mit der höchsten Zahl an Gefangenen weltweit. Die Haftbedingungen beschreibt HRW als „mittelalterlich“. Zahlreiche Gefängnisse werden de facto von kriminellen Organisationen verwaltet. „In den Einrichtungen gibt es keine Kontrolle“, sagt der Regionaldirektor von Human Rights Watch, Daniel Wilkinson. „Das hat in der Vergangenheit zu Gewalt geführt und wird weiter zu Gewalt führen.“