Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Zeitreise in die 1930er
Zu Besuch beim Art Deco Festival im neuseeländischen Napier
Eine Stadt putzt sich heraus: Jedes Jahr im Februar werfen sich die Bewohner von Napier in Schale. Die Damen tragen edle Seidenkleider im Stil der 1930er- und 1940er-jahre, Hüte mit Federschmuck und lange Perlenketten. Die Herren holen ihre edlen Dreireiher mit Weste aus dem Kleiderschrank und setzen Strohhüte oder Ballonmützen auf. Aus den Radios dringt unentwegt Swing und Jazz. Und über die geputzten Straßen der kleinen Stadt an der Hawke’s Bay im Osten der Nordinsel Neuseelands rollen hochglanzpolierte rote Packards oder cremefarbene Chevys. Es ist die Zeit des Art Deco Festivals. Lebendige Architektur Kaum eine Kulisse könnte für ein solches Festival besser geeignet sein als Napier. Denn die meisten Gebäude der Stadt sind im Art Deco Stil gebaut. Neben Miami Beach in den USA ist Napier damit einer der wenigen Orte weltweit, an denen die Architektur dieser Stilrichtung noch heute lebendig ist. Napier selbst nennt sich durchaus selbstbewusst sogar „Art Deco Capital of the World“– die Art Deco Hauptstadt der Welt. Denn nach Aussagen der Bewohner kann man nirgendwo sonst eine ähnliche Vielfalt von Gebäuden im Stil der 1930er-jahre bewundern. Grund für dieses kulturelle Alleinstellungsmerkmal ist ein großes Unglück: Am 3. Februar 1931 wurde Napier um 10.46 Uhr Ortszeit von einem verheerenden Erdbeben getroffen. Die Erdstöße hatten eine Stärke von 7,8 auf der Richterskala und dauerten nur etwa zweieinhalb Minuten. Doch ausbrechende Brände verschlangen danach fast das gesamte Zentrum der idyllischen Küstenstadt. Rund 260 Menschen verloren ihr Leben. Aufgeben war für die überlebenden Bewohner aber keine Option. Im Gegenteil: Sie wollten ihre Stadt wieder aufbauen, schöner als zuvor. Und deshalb wählten sie für die meisten Gebäude den damals modernen und lebensbejahenden Art Deco Stil, der die Stadt bis heute prägt. Um die Pflege dieses kulturellen Erbes kümmert sich seit 1985 der Art Deco Trust. Schon im Gründungsjahr der Stiftung wurde klar: Das Interesse des Publikums ist riesig. Zu der ersten Stadtführung zu herausragenden Gebäuden im Art Deco Stil kamen 1100 Menschen – und das, obwohl die Tour an einem Sonntag im Juni 1985 stattfand, also mitten im neuseeländischen Winter. Getragen von diesem Enthusiasmus, entstand die Idee, Art Deco auch zu feiern. Und so gibt es seit 1988 jedes Jahr im Februar, in Erinnerung an das Erdbeben und den Wiederaufbau Foto: Art Deco Festival
der Stadt, das Festival. Allein 2016 kamen rund 40000 Besucher eigens dafür nach Napier. Was sie erleben, ist tatsächlich so etwas wie eine Zeitreise. Kaum ein Besucher, der sich für diesen Anlass nicht das schönste 30er-jahre-outfit aus dem Fundus besorgt hat. Selbst die kleinen Jungs tragen beim Picknick in der Parkanlage am Strand kurze Leinenhosen mit Hosenträgern, die Mädchen feine Kleidchen und Kopfbänder mit Federschmuck. Die stilecht gekleideten Besucher lassen selbst den örtlichen Starbucks wie einen alteingesessenen, traditionellen Coffeeshop wirken. Auf den Bühnen im Stadtzentrum und am Strand wird Jazz gespielt oder Tango zelebriert, Brassbands spielen Songs wie „Singin’ in the Rain“oder „Puttin’ on the Ritz“. Und spätestens, wenn der Korso der herausgeputzten und bestens gepflegten historischen Autos langsam durch das Zentrum rollt, fühlt man sich in die alte Zeit zurückversetzt. Lediglich die Smartphones, mit denen die Passanten die glitzernde Parade festhalten, stören das Bild ein wenig. Paare lernen den Charleston Für das Art Deco Festival vom 15. bis 19. Februar 2017 ist das Programmheft prall gefüllt. 86 Jahre nach dem großen Erdbeben können Besucher zum Beispiel beim „Depression Dinner“die schmale Kost der Vergangenheit probieren, auf der Promenade der Stadt am „Gatsby Picnic“teilnehmen oder bei der „Prohibition Party“feiern. Eltern können ihre Kinder beim Seifenkistenrennen anfeuern, und Paare lernen, wie man Charleston tanzt. Auf den Straßenpartys, in Ausstellungen und Shows, die Napier während des Festivals mit Leben füllen, fällt es nicht schwer, die Zeit zu vergessen. Für manchen kann es dann aber eine Herausforderung sein, nach fünf Tagen wieder in die Gegenwart zurückzukommen.