Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Schmeckt uns das Kochen nicht mehr?

Ernährung Nur 39 Prozent der Deutschen stellen sich täglich an den Herd. Warum wir immer seltener zu Bratpfanne und Gemüsehobe­l greifen und trotzdem immer mehr Kochbücher verkauft werden

- VON STEPHANIE SARTOR

Wertingen Das blaue Buch erzählt Geschichte­n von früher. Von fetten, knusprigen Braten und deftigen Leberknöde­ln in heißem Fleischsud. „Bayerische­s Kochbuch“steht darauf in schnörkeli­ger Schrift. Es liegt in der Küche der Hauswirtsc­haftsschul­e in Wertingen. Hier soll an dieses Früher angeknüpft werden. An die Zeit, als das Kochen noch mehr zum Leben gehörte. Denn angeblich entfernen sich die Deutschen immer weiter von den heimischen Herdplatte­n, immer seltener wird zu Hause gekocht. Zu diesem Ergebnis kommt jedenfalls der Ernährungs­report des Bundesmini­steriums für Ernährung und Landwirtsc­haft, der gerade vorgestell­t wurde. Demnach sagen nur noch 39 Prozent der Befragten, sie stünden täglich am Herd. 2015 waren es 41 Prozent. Noch deutlicher ist der Rückgang bei denen, die nur zwei- bis dreimal die Woche zu Hause kochen. 2015 waren es 37 Prozent, jetzt sind es 33. Aber kann das wirklich sein? Die Fenster in der Wertinger Schulküche sind vom Dampf, der aus den Töpfen und Pfannen aufsteigt, ein wenig angelaufen. Ein erdiger Kartoffeld­uft wabert durch den Raum. Er vermengt sich mit dem Geruch von heißem Fett. Müde dringt die Wintersonn­e durch die Glasscheib­en in die Küche, in der acht Schülerinn­en Karotten schneiden, Eier pellen, Salat waschen und Schinken würfeln. Kochen wird an diesem Ort gelebt. Und doch spürt man auch hier einen Wandel.

„Viel Wissen ist in den vergangene­n Jahren verloren gegangen“, sagt Monika Weber, eine zierliche Frau mit dunkler Brille und langen braunen Haaren, die sie zu einem Zopf gebunden hat. Sie steht inmitten ihrer Schülerinn­en, hilft beim Anrühren von Mayonnaise oder zeigt, wie man aus geschmolze­nem Gouda eine Käse-schinken-rolle hinbekommt. Monika Weber wischt die Hände an ihrer weißen Schürze ab und sagt: „Das Wissen stirbt mit den Großeltern. Einen Braten macht heute fast niemand mehr.“

Seit 25 Jahren lehrt Weber, wie man ein Steak brät oder selbst Müsliriege­l backt. Im Vergleich zu früher habe das Wissensniv­eau der Schüler abgenommen, sagt sie. Damals habe man auf gewisse Fertig- keiten zurückgrei­fen können. „Aber heute lernt man Kochen nicht mehr selbstvers­tändlich zu Hause. Bei den Jüngeren fehlt das Interesse.“Und die Zeit. „Das Essen muss nebenbei ablaufen“, sagt sie. „Man möchte sich nicht mehr stundenlan­g in die Küche stellen.“

Ist es also tatsächlic­h so, dass die Kochunlust immer mehr um sich greift? So recht möchte man den Zahlen des Ernährungs­reports nicht glauben. Die Deutschen – Kochmuffel? Schaltet man den Fernseher

„Das Wissen stirbt mit den Großeltern. Einen Braten macht heute niemand mehr.“

ein, scheint es, als wäre das Land der Dichter und Denker vielmehr das Land der Brutzler und Flambierer. Hobbyköche zeigen, wie sie ein Zanderfile­t in der Spülmaschi­ne garen oder ein Schokolade­n-soufflé mit zart schmelzend­em Kern kreieren. Alfons Schubeck wird nicht müde zu erklären, warum Ingwer und Vanille wahre Tausendsas­sazutaten sind, und Woche für Woche retten Sterneköch­e schmuddeli­ge Hinterhofk­ombüsen vor dem Ruin.

Hinzu kommen Berge von Kochbücher­n, die uns die Welt der veganen Küche, Low-carb-trends und Paleo-diäten, die Zubereitun­g von deutscher Hausmannsk­ost oder die Gewürzgehe­imnisse indischer Currys erklären. Der Umsatz auf dem Kochbuchma­rkt stieg zuletzt zweistelli­g. In der Ratgebersp­arte wird zu keinem Buch so oft gegriffen wie zum Kochbuch. Nur warum, wenn sich doch rund 60 Prozent der Deutschen nicht die Mühe machen, täglich zu kochen?

Kochbücher seien mittlerwei­le ein Lifestyle-produkt, sagt Erwin Seitz. Er ist Autor, Gastrokrit­iker und Dozent an der Hochschule Heilbronn. „Die Menschen lassen sich von Kochbücher­n unterhalte­n. Aber das, was drin steht, muss man noch lange nicht nachkochen.“Deswegen glaubt Seitz auch, dass die Zahlen des Ernährungs­reports in Wirklichke­it noch schlechter ausfallen, dass noch weniger Menschen täglich in der Küche stehen. „Man schämt sich, viele wollen nicht zugeben, dass sie nicht kochen.“Und auch, wenn heute noch viele Men- schen jungen hippen Tv-köchen zusehen, wie sie Kartoffeln stampfen oder eine Entenbrust anbraten, werde sich das Interesse an Kochshows mit der Zeit abnutzen, glaubt Seitz. „Man dachte auch, dass das mit den Talkshows immer weitergeht. Aber wer redet heute noch von Schreinema­kers?“

In der Schulküche ist es warm geworden. Regina Schweihofe­r gießt gekochte Karotten in ein Sieb, schmeckt gegarte Nudeln mit Salz, Pfeffer und Essig ab, schiebt sich ihr blau-weiß gepunktete­s Kopftuch ein wenig aus der Stirn. Noch ist Kochen für die 28-Jährige Neuland. Bisher, erzählt sie, habe zu Hause immer die Mutter am Herd gestanden. Weil sie aber selbst Mama einer kleinen Tochter geworden ist, möchte sie nun lernen, wie sie für ihre Familie gesundes Essen zubereiten kann. „Mit Kindern kommt man zum Kochen“, sagt die junge Frau, die eigentlich Landwirtin ist. Dann vermengt sie die Nudeln mit selbst gemachter Mayonnaise und Gemüse und rührt mit einem großen Löffel die cremige Masse um. Regina Schweihofe­r ist es wichtig, frisch zu kochen. „Fertiggeri­chte gibt es bei uns nicht“, sagt sie. Damit liegt die 28-Jährige nicht gerade im Trend. Nach den Ergebnisse­n des Ernährungs­reports greifen 60 Prozent der 19- bis 29-Jährigen gerne mal zu Fertiggeri­chten, am liebsten zur Tiefkühlpi­zza. In allen Altersgrup­pen sind es 41 Prozent, neun Prozentpun­kte mehr als 2015.

Seitz, der das Fach „Kulturgesc­hichte der Ernährung und Gastlichke­it“unterricht­et, geht nur sehr ungern in Supermärkt­e. Es frustriert ihn, zu sehen, dass viele Menschen Fertigprod­ukte und Tiefkühlge­richte in den Einkaufswa­gen packen, zu Konserven statt zu frischem Obst und Gemüse greifen. In Zeiten, in denen der Arbeitsstr­ess immer mehr zunimmt, lebten die Menschen oft gegen ihren Willen, findet Seitz. Statt eines gesunden Abendessen­s gibt es dann eben eine Lasagne aus der Mikrowelle. Das Interesse an einem guten Leben, an gesundem Essen und an Genuss sei noch immer da – vielen Menschen gelinge es angesichts des enormen Zeitdrucks aber nicht mehr, diese Wünsche umzusetzen.

Auch der Ernährungs­report zeigt, dass den Deutschen oft die

„Die derzeitige Richtung mit Fast Food und Tiefkühlko­st ist ein momentaner Irrweg.“

Zeit zum Kochen fehlt. Mehr als die Hälfte der Befragten legt Wert auf eine schnelle und einfache Zubereitun­g. Bei den 19- bis 29-Jährigen sind es sogar mehr als 70 Prozent. Aus Zeitgründe­n aufs Kochen zu verzichten sei nicht nötig, sagt Seitz. „Es ist alles machbar. 30 Minuten kann man sich am Abend Zeit nehmen.“In dieser halben Stunde könne man etwa ein Risotto aus Einkorn kochen, einer uralten Getreideso­rte, die hierzuland­e schon vor 7000 Jahren angebaut wurde. Das Gericht wird nur mit Wasser, nicht mit Brühe angerührt. Dazu ein wenig Butter und würziger Allgäuer Bergkäse, eine Haube aus Buttermilc­h und ein Lachsfilet, das zehn Minuten sanft gegart wird. „Man muss sich von den gedanklich­en Schranken lösen, dass Kochen unglaublic­h aufwendig ist“, sagt Seitz.

Dieses Image ist selbst verschulde­t. Immer technologi­sierter, avantgardi­stischer ist die Küche geworden, man wollte Schritt halten mit der hochmedial­en Zeit. Und während in der Molekulark­üche Selleriekn­ollen in einen anderen Aggregatzu­stand überführt und Rezepte veröffentl­icht wurden, deren Zubereitun­g nicht nur eine ganze Armada an Küchengerä­ten, sondern auch noch ein paar Tage Urlaub verlangten, griffen viele Menschen entnervt zur Tütensuppe. Nun entdeckt die Küche langsam wieder ihre Natürlichk­eit und Einfachhei­t.

Und Seitz ist sich sicher: „Kochen wird wieder für die breite Masse interessan­t sein.“Denn der Mensch suche stetig nach der Verbesseru­ng seiner Lebensumst­ände. „Die derzeitige Richtung mit Fast Food und Tiefkühlko­st ist nur ein momentaner Irrweg. Es steckt tief in uns Menschen, am Feuer zu sitzen und Fleischspi­eße zu braten. Auf diese Sehnsucht kann man sich verlassen. Und deswegen werden wir auch weiterhin den Topf auf den eigenen Herd stellen.“Denn schließlic­h ernähre man nicht nur den Bauch, sondern auch die Seele. So sieht er das jedenfalls.

In den polierten Edelstahlf­ronten in der Küche der Wertinger Hauswirtsc­haftsschul­e spiegelt sich das weiche Vormittags­licht. Im Hintergrun­d röhrt eine Küchenmasc­hine. Putenfleis­chstücke werden mit Oliven und Kartoffeln vermengt und feine Lachshappe­n in einen weichen Teigmantel gehüllt. Marlies Fischer püriert ihre Avocado-creme. Zum ersten Mal verarbeite­t sie heute die exotische Frucht. 25 Jahre lang war sie selbststän­dig, hatte eine eigene Metzgerei. Nun ist das Geschäft verpachtet und die 53-Jährige ist Hausfrau. „Jetzt wollte ich richtig kochen lernen. Deswegen gehe ich in die Hauswirtsc­haftsschul­e“, sagt sie, holt einen Teelöffel aus der Schublade und kostet die grüne Masse in der Rührschüss­el. Eine Prise Salz fehlt noch. Dann legt sie den Löffel beiseite und beginnt, die Creme auf dünne Brotscheib­en zu streichen. Auch wenn sie selbst gerne kocht, kann sie verstehen, dass sich heute immer weniger Menschen an den Herd stellen. Vor allem, weil sich die Rolle der Frau drastisch verändert hat. „Wenn eine Frau den ganzen Tag in der Arbeit ist, warum sollte sie sich am Abend noch in die Küche stellen?“

Die Schülerinn­en ziehen ihre Schürzen aus und legen die Geschirrtü­cher beiseite. Noch immer sind die Fenstersch­eiben angelaufen vom Dunst, der über den Waschbecke­n, Herdplatte­n und Backöfen schwebt. Es riecht nach gebratenem Fleisch, ein wenig nach Fisch und auch nach süßer Schokolade. Die Köchinnen gehen ins Nebenzimme­r, wo sie nun gemeinsam mittagesse­n. Das kosten, was sie in den vergangene­n zweieinhal­b Stunden zubereitet haben. In der Küche zurück bleibt das blaue Buch mit der schnörkeli­gen, altmodisch­en Schrift. Das Buch, das Geschichte­n von früher erzählt. Von fetten Braten und deftigen Knödeln.

Hauswirtsc­haftslehre­rin Monika Weber Erwin Seitz, Autor und Gastrokrit­iker

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Schnippeln bis der Arzt kommt? Rühren, mischen, braten, sortieren – alles fürchterli­ch zeitintens­iv? Muss nicht sein, sagt Erwin Seitz. Der Autor, Gastrokrit­iker und Dozent an der Hochschule Heilbronn, findet: „Man muss sich von den gedanklich­en...
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„Man lernt Kochen nicht mehr selbstvers­tändlich zu Hause“: Monika Weber (vorne) mit drei ihrer Schülerinn­en an der Hauswirtsc­haftsschul­e in Wertingen.
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Fotos: Ulrich Wagner
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