Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
„Großmutter, sollen wir dich verstecken?“
Türkei Zeynep Oral ist Vorsitzende im Pen-verband ihres Landes. Die Kolumnistin der liberalen Zeitung Cumhuriyet erzählt, unter welchen Belastungen Journalisten und Schriftsteller unter dem Erdogan-regime ihrer Arbeit nachgehen
Bregenz Zeynep Oral will eigentlich schreiben und nicht Reden halten. Schreiben ist ihr Ding: Kurzgeschichten, Reiseberichte, Biografien. 18 Bücher hat sie veröffentlicht, daneben ungezählte Artikel in Zeitungen und Magazinen, die meisten über Oper, Theater, Literatur, vieles auch zu Menschenrechtsund Frauenthemen. Zur Zeit ist die preisgekrönte Autorin und Vorsitzende des türkischen Pen-verbandes vor allem als Rednerin gefragt. Sie gibt denjenigen eine Stimme, die mundtot gemacht wurden: Autoren und Journalisten, Richter und Lehrer in der Türkei. Stellvertretend für die Redakteure der liberalen Zeitung nahm sie den alternativen Nobelpreis entgegen.
Seither wird sie nicht müde, die besorgniserregenden Entwicklungen in ihrem Heimatland zu schildern – mit einer gewissen Vorsicht, die zugleich schreiend deutlich ist. Ob sie Bregenz tatsächlich erreichen würde, wohin sie der Vorarlberger Presseclub zu einem Vortrag eingeladen hatte, war am Morgen der Veranstaltung nicht sicher. Jedes Mal, wenn Oral zum Flugplatz fährt, rechnet sie damit, dass sie verhaftet wird. Diesmal war es noch nicht so weit.
„Großmutter, hast Du Angst? Großmutter, sollen wir Dich verstecken?“Fast täglich erkundigen sich die besorgten Enkel nach Zeynep Oral. Ihre Söhne sagen: „Genug ist genug. Du solltest Angst haben. Hör auf zu schreiben.“Natürlich hat sie Angst. Sich jedoch nicht zu äußern, nicht zu schreiben, sei kein Schutz, sagt sie. Weil nichts mehr berechenbar ist in der Türkei. „Man kann auch einen alten Text von dir rausziehen und dich deswegen verhaften.“Ein gewisser Schutz dagegen sei die internationale Aufmerksamkeit. Der alternative Nobelpreis habe gut getan, ist sie überzeugt. Deshalb nimmt sie Einladungen ins Ausland an.
Gerade mal 30 Minuten dauert ihr Referat, sie hat es in bester Journalisten-manier vollgepackt mit Fakten aus der Türkei: 147 Journalisten sitzen im Gefängnis. Seit dem Putschversuch im vergangenen Sommer, der 230 Menschenleben kostete, wurden 60000 Lehrer entlassen, 86 000 Pässe und 780 Presseausweise konfisziert, 45 Zeitungen, Fernsehstationen, 29 Verlage, 15 Universitäten, 104 Stiftungen, 194 Privatschulen geschlossen. Der Ausnahmezustand ermöglicht all das. Ausgerufen, um das Land vor Terrorismus zu schützen, hat dieses Machtinstrument sein offizielles Ziel verfehlt, wie Zeyneps Zahlen belegen: Seit Sommer verloren bei 13 terroristischen Anschlägen in der Türkei 206 Menschen ihr Leben, 767 wurden verwundet. Zuletzt war es der Anschlag auf den Istanbuler Nobel-nachtklub Reina, in dessen Nähe Zeynep Oral lebt. Sie wurde fast wahnsinnig, bis sie sicher wusste, dass keiner ihrer sieben Enkel unter den 39 Toten und 70 Verletzten ist.
Wer wollte einer Chronistin verbieten, belegte Daten zu nennen? Die die in Freiheit sind, fragen sich nicht, ob sie noch veröffentlichen können, sie tun es einfach. Sie lassen weiße Flächen frei an den Stellen, die den Ko- lumnen der Inhaftierten vorbehalten sind. Während das Blatt dünner und dünner wird, halten die Journalisten an ihrer Mission fest. „Wir, die wir nicht im Gefängnis sind, kämpfen weiter für die Freiheit der Gedanken und die Freiheit des Ausdrucks“, sagt Zeynep Oral und hält stolz die jüngste Ausgabe der
hoch. Täglich prangt
„Ich schöpfe Kraft aus meiner Unschuld“
groß eine Zahl auf der Titelseite des Traditionsblatts, neben einer Collage aus Fotos der elf inhaftierten Mitarbeiter. Die Zeitung tut kund, seit wie vielen Tagen die Kollegen in Haft sind – mittlerweile 82. Bislang wurde keine Anklage erhoben, über die Gründe der Festnahmen kann man spekulieren. Der Teejunge des Zeitungshauses hat mal geäußert, dass er dem Staatspräsidenten kei34 nen Tee ausschenken würde. Auch er sitzt jetzt im Gefängnis. Als Zeynep Oral erfährt, dass deutschsprachige Medien die Geschichte des Teejungen verbreitet haben, freut sie sich. Noch schaut die Welt hin.
Woher nimmt sie ihren Mut und ihre Kraft? „Ich schöpfe Kraft aus meiner Unschuld“, sagt die 70-Jährige und lächelt müde. Zugleich weiß sie, dass es nichts hilft, der eigenen Furcht nachzuspüren, so real und begründet sie auch sein mag. Wer weiß schon in der Türkei, ob sein Handy abgehört, seine Mails gelesen werden? „Nimmt irgendjemand von Ihnen auf?“fragt Oral in Bregenz in die Runde der Journalisten. Auf Mitschnitte ihrer Rede mögen die Kollegen verzichten, bittet sie. Dass sich die Kollegen schriftliche Notizen machen, um ihrer Leserschaft später eine der inzwischen seltenen Innensichten aus der Türkei anzubieten, ist jedoch in ihrem Sinne.
Wenn Zeynep Oral von den Handelnden in der Türkei spricht, dann sagt sie „die Regierung“. Der Name des Staatspräsidenten fällt nicht. Der Name von dessen Erzfeind jedoch schon. Im Westen habe man Fethullah Gülen lange Zeit als Vertreter eines moderaten Islam geschätzt. Problematisch sahen ihn jedoch schon immer die Autoren von
sagt Oral. „Als Journalisten vor Jahren kritisch über Gülen schrieben, wurden sie verhaftet.“Den gleichen Leuten werfe man heute vor, Anhänger der Gülen-bewegung zu sein. „Und so werden wir zerrieben im Konflikt zwischen zwei islamistischen Bewegungen.“
Viel ist dabei zu Bruch gegangen. In den 1990er Jahren war die Türkei nach Meinung Orals besser aufgestellt für einen Eu-beitritt als mancher Staat, der im Zuge der Osterweiterung in den 2000er Jahren Aufnahme fand. Die westliche Welt hat ihrer Meinung nach eine große Chance vertan, indem sie der Türkei nicht mehr Mitwirkung ermöglichte als die Mitgliedschaft in der NATO. Zeynep Oral ist tief enttäuscht vom Westen, der die Hoffnung auf einen scheinbar moderaten Islam dem Säkularismus vorgezogen habe. Heute bleibe der türkischen Bevölkerung die Entscheidung zwischen einem islamistischen und einem militaristischen Regime. Intellektuelle wie Oral lehnen es ab, zwischen diesen Optionen zu wählen.
Die türkische Gesellschaft ist tief gespalten. Regierungsanhänger erhoffen sich den Himmel mit der Machtfülle, die der Präsident sich mittels Verfassungsreform sichern möchte; Oppositionelle erleben die Zustände im Land als Hölle. Zeynep Oral entdeckt die Hölle in sich selbst. Wenn sie beginnt, sich selbst zu zensieren. Wenn sie einen kritischen Kommentar geschrieben hat, und ihre Söhne mal wieder sagen: „Es ist genug.“Dann kann es passieren, dass sie sich für die nächste Kolumne in die Welt ihrer ursprünglichen Passion zurückzieht und über eine Oper oder ein neues Buch schreibt. „Gleichzeitig denke ich: Was tu’ ich da? Anderes ist doch viel wesentlicher!“Ihre Stimme wird brüchig, als sie das sagt. „Am schlimmsten ist die Selbstzensur.“Wer wie Zeynep Oral an die Freiheit des Geistes glaubt und für sie sein Herzblut geben würde, der hält das kaum aus.