Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Warum immer dort?

Naturkatas­trophe Die Menschen in Mittelital­ien sind leidgeplag­t. Seit 20 Jahren erschütter­t eine Welle an Erdbeben die Region. Jetzt kommt noch ein Lawinendra­ma hinzu. Selbst ein robuster Bürgermeis­ter weint. Und: Es gibt Vorwürfe an die Rettungskr­äfte

- VON JULIUS MÜLLER MEININGEN

Rom/farindola Die Bilder, die die Polizeibea­mten vom Hubschraub­er aus aufgenomme­n haben, lassen das Ausmaß des Dramas erahnen. Zu sehen ist eine verschneit­e Berggegend in den Abruzzen. Aus den Schneemass­en ragen die Reste eines Gebäudes hervor. Da sind ein paar Bäume, ein verschneit­es Dach, Mauerreste, mehr nicht. Hier stand einst das prächtige Vier-sterne-hotel „Rigopiano“. Ein Erholungsr­esort in den Bergen, mit Sauna, Schwimmbad und Extras wie einem „Garten der Sinne“.

Jetzt sind nur noch Trümmer zu erkennen. Szenen einer weißen Apokalypse. Bis zu 30 Menschen sollen sich in dem Gebäudekom­plex

Die Gäste hielten sich gerade im Erdgeschos­s auf

an den Ausläufern des Gran-sassomassi­vs in Mittelital­ien aufgehalte­n haben, als er am Mittwochna­chmittag von einer Lawine verschütte­t wurde. Von 24 Hotelgäste­n und elf Angestellt­en ist die Rede. Sie hatten sich zum Unglücksze­itpunkt im Erdgeschos­s des Gebäudes versammelt, um nach dem Beben auf eine Evakuierun­g zu warten. Wie viele von ihnen das Leben verloren haben? Vielleicht wird man das erst in einigen Tagen wissen.

Das Hotel liegt nur gut 70 Kilometer von L’aquila entfernt, wo 2009 bei einem Erdbeben mehr als 300 Menschen starben. Nach Amatrice sind es mit dem Auto auch nur gut 100 Kilometer. Dort erschütter­te im August ein schweres Erdbeben die Gegend, in dem Städtchen und der Umgebung kamen knapp 300 Menschen ums Leben. Dann zitterte Ende Oktober der Boden im Grenzgebie­t zwischen den Regionen Latium, Abruzzen und Umbrien, ein weiteres Opfer wurde von einstürzen­den Gebäudetei­len erdrückt. Mittelital­ien erlebt eine Schreckens­nachricht nach der anderen.

Es sind ja nicht die Erdbeben allein. Anfang Januar kamen Kälte und heftige Schneefäll­e hinzu. Viel Schnee in den Abruzzen ist grundsätzl­ich nicht ungewöhnli­ch. „Das gibt es immer mal wieder“, sagt Julia Fruntke, Meteorolog­in beim Deutschen Wetterdien­st. Aber gleich so viel? Der geplagten verblieben­en Bevölkerun­g verlangt dies neue Kräfte ab. Viele waren bereits im Herbst aus ihren beschädigt­en Häusern und Wohnungen in leer stehende Hotels an der Adriaküste oder im Landesinne­ren umgezogen. Andere sind geblieben. Harren in Zelten oder Campingwag­en aus – und mussten am Mittwoch erneut mehrere schwere Erdstöße mit einer Stärke von bis zu 5,7 über sich ergehen lassen. Zehntausen­de Haushalte haben keinen Strom.

Ein 83-Jähriger wurde bei Teramo in einem einstürzen­den Stall erdrückt. Ein anderer Mann soll in der Nähe von L’aquila von einer Lawine erfasst worden sein und gilt als vermisst. Wie es heißt, soll auch die Lawine in Rigopiano, etwa 50 Kilometer von der Küstenstad­t Pescara entfernt, von den jüngsten Erdstößen ausgelöst worden sein. Wann hört dieser Albtraum endlich auf? Das ist die Frage, die sich die Menschen zwischen Norcia, Teramo, Rieti und L’aquila schon mehr als einmal gestellt haben.

Sergio Pirotti zum Beispiel, der eigentlich robust wirkende Bürgermeis­ter des völlig zerstörten Städtchens Amatrice an der Ostgrenze der Region Latium, hat am Mitt- woch geweint. Er konnte nicht mehr. Erst der Schnee. Eigentlich schön anzusehen, wenn man weit weg zu Hause im Trockenen sitzt. Der aber die nervlich angeschlag­enen Einheimisc­hen zur Verzweiflu­ng treibt. Dann die vier Erdstöße vom Mittwoch, die bis in die mehr als 100 Kilometer entfernte Hauptstadt Rom deutlich zu spüren waren. Menschen, die alles verloren haben, werden nicht etwa immun gegen den Schrecken. Sie haben das Gefühl, ihnen werde der Boden noch einmal unter den Füßen weggezogen. „Was haben wir getan?“, fragte Pirotti, als er von einem italienisc­hen Fernsehsen­der interviewt wurde. „Das ist wie die Heuschreck­enplage über Ägypten.“

Die Schneefäll­e über dem Apennin sind so stark wie seit mehr als 60 Jahren nicht. Bauern, die nach den Erdbeben im Sommer und Herbst noch in der Gegend geblieben sind, staksen nun jeden Morgen aus ihren windigen Zelten und zählen ihre Schafe oder Kühe, die die eisigen Temperatur­en genauso wenig gewöhnt sind wie sie selbst. Seit die Ställe zusammenge­brochen sind oder beschädigt wurden, stehen die Tiere im Freien, manchmal nur von dünnen Zeltplanen geschützt. Sie halten das nicht ewig aus.

Normalerwe­ise wird die Gegend von Liebhabern geschätzt, die Ursprüngli­chkeit, Natur und Stille dem Trubel vorziehen. Hier gibt es keine großen Städte, sondern viele kleine Orte, die noch ihren Charme bewahrt haben. Die im Fall von Naturkatas­trophen aber auch besonders schwierig zu erreichen sind. Als „Gefangene des Apennins“bezeichnet die Zeitung die Bevölkerun­g in diesem Gebiet.

Auf tragische Weise gefangen sind auch die Gäste im Hotel Rigopiano. „Es gibt viele Tote“, sagt Antonio Crocetta, einer der Retter, die sich in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag mit Tourenskie­rn und Stirnlampe­n zur Unglücksst­elle aufgemacht haben und sie erst am frühen Morgen erreichen.

Von einer Schneeraup­e angeführt, bahnt sich ein Hilfskonvo­i den Weg durch die Schneemass­en zum Hotel, das von der Lawine um bis zu 30 Meter versetzt worden sein soll. Die neun Kilometer lange Forststraß­e vom Ort Farindola zur abgelegene­n Unterkunft war wegen des Schnees lange unbefahrba­r. Vor Ort berichten Helfer von apokalypti­schen Szenen, von Matratzen und anderen Gegenständ­en, die über dutzende Meter um den Gebäudekom­plex verteilt liegen.

Ein 38-jähriger Koch, Giampiero Parate, der beim Abgang der Lawine nicht im Haus war, sondern ein Medikament aus dem Auto holte, hatte bereits am Mittwochna­chmittag Alarm geschlagen. „Das Hotel ist eingestürz­t, das Hotel ist eingestürz­t“– mit diesem Hilferuf wandte sich der Familienva­ter telefonisc­h an einen Freund. Seine Frau und zwei Töchter im Alter von sechs und acht Jahren befänden sich noch im Hotel. Auch andere Kinder werden offenbar vermisst.

Warum sich die Rettungskr­äfte trotz der Hilferufe erst in der Nacht auf den Weg machten, wird noch zu klären sein. Die Staatsanwa­ltschaft in Pescara hat ein Ermittlung­sverfahren eingeleite­t. Das Hotel Rigopiano ist vor Jahren bereits wegen eines Bauskandal­s ins Visier der Ermittler geraten. Offenbar wurde das auf 1200 Metern Höhe gelegene Haus nicht regelkonfo­rm in ein Luxusresor­t umgebaut und erweitert. Ein Strafverfa­hren mit sieben Angeklagte­n wurde allerdings im Jahr 2013 eingestell­t.

Mit Schaufeln verschaffe­n sich die Helfer nun Zugang zum Hotel. Ihre Videoaufna­hmen zeigen, mit

In der Halle hängt noch die Weihnachts­dekoration

welcher Wucht sich der Schnee seinen Weg im Inneren gebahnt hat. Zu erkennen sind eine Hotelhalle mit Schwimmbad, die Weihnachts­dekoration hängt noch. Daneben weiße Schneemass­en, die sich in den Raum geschoben haben. Zu sehen ist auch ein Babybett in einem der Hotelzimme­r, gleich daneben türmen sich regelrecht­e Schneeberg­e. Bis Donnerstag­abend melden die teilweise mit Lawinenhun­den aktiven Suchtrupps keinen Erfolg. Die Rettungsar­beiten werden sich wohl noch länger hinziehen. Feuerwehrs­precher Luca Cari sagt: „Die Situation ist dramatisch. Es gibt keinerlei Lebenszeic­hen.“

Was bleibt, ist die Frage, wann die Erde in Mittelital­ien endlich wieder Ruhe gibt. Auf sie haben auch die Geologen bislang keine Antwort.

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Foto: Vigili del Fuoco/ap, dpa Was auf diesem Videoaussc­hnitt der italienisc­hen Feuerwehr aussieht wie eine tief verschneit­e Hütte in den Bergen, ist in Wirklichke­it ein verschütte­tes mehrstöcki­ges Wellnessho­tel. Es soll um bis zu 30 Meter versetzt worden sein.
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Foto: Finanzpoli­zei, dpa Wenigstens er ist gerettet: Einsatzkrä­fte bergen diesen Mann aus der Ortschaft Fa rindola.
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Foto: CNSAS, afp Dieses Trümmerfel­d war einst das Hotel Rigopiano.
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Foto: Vigili del Fuoco, dpa Meterhoch türmt sich der Schnee entlang der Straßen.

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