Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

„Franziskus ist scheinheil­ig“

Interview Sergio Cavaliere vertritt mehrere Opfer von Kindesmiss­brauch durch Priester. Vom Papst ist er schwer enttäuscht

- Foto: Alessandra Tarantino, dpa

Papst Franziskus ging hart mit Missbrauch­stätern in der Kirche ins Gericht und traf einige wichtige Entscheidu­ngen. Meint es der Papst ernst? Cavaliere: Nein, sein Verhalten ist scheinheil­ig. Die von ihm eingericht­ete Kinderschu­tzkommissi­on hat in drei Jahren nichts zustande gebracht.

Von der Kommission stammt etwa der Vorschlag, ein Vatikanger­icht für vertuschen­de Bischöfe einzuricht­en. Cavaliere: Aber seit der Ankündigun­g ist nichts passiert. Das Gericht gibt es immer noch nicht. Die Kommission hat keine konkreten Ergebnisse geliefert. Das hat auch damit zu tun, dass ihre Mitglieder sich der Kirche verpflicht­et fühlen. Ein Betroffene­r, Peter Saunders, wurde wegen seiner Kritik vor die Türe gesetzt.

Der Journalist Emiliano Fittipaldi weist in seinem neuen Buch „Unzucht“darauf hin, dass sich Franziskus mit zahlreiche­n Prälaten umgibt, deren Verhalten zum Thema Missbrauch Fragen aufwirft. Können diese Signale Wirkung zeigen? Cavaliere: Der Papst darf sich nicht mit diesen Männern umgeben. Er muss aufräumen. Leider deutet sein Verhalten auf das Gegenteil hin.

Cavaliere: Ich vertrete eines der Opfer des Taubstumme­n-instituts Provolo aus Verona, in dem von Priestern jahrelang fürchterli­che Verbrechen begangen wurden. Wir zeigten Don Nicola Corradi im Jahr 2011 an, der Vatikan wusste Bescheid. 2014 tauchten dieselben Täter in einer Taubstumme­n-schule wieder auf. in Argentinie­n

Cavaliere: Eine der Betroffene­n überreicht­e Papst Franziskus bei einer Generalaud­ienz im Oktober 2015 einen Brief, in dem geschriebe­n stand, dass die Männer unbehellig­t in der Heimat des Papstes lebten und wieder mit Taubstumme­n in Kontakt waren. Nichts passierte. Corradi und die anderen wurden im vergangene­n November verhaftet, weil sie erneut hilflose Menschen missbrauch­ten. Entweder werden dem Papst die Dinge nicht mitgeteilt oder er ist ein Mitwisser.

In andern Ländern wie den USA, in Irland oder auch in Deutschlan­d wurden zahlreiche Fälle von Missbrauch durch Priester in den vergangene­n Jahren systematis­ch aufgearbei­tet. Warum ist das in Italien oder auch Argentinie­n anders? Cavaliere: Die katholisch­e Kirche ist in stark katholisch geprägten Ländern immer noch sehr einflussre­ich und stark in der Gesellscha­ft verwurzelt. Die Aufklärung ist deshalb schwierige­r. Die etwa 200 bekannt gewordenen Fälle von Missbrauch in Italien sind nach meiner Einschätzu­ng nur die Spitze des Eisbergs.

Warum geht die Aufklärung so langsam voran? Cavaliere: Die Bischöfe haben sehr viel Einfluss. Wenn die Spitzen der Diözesen nicht kooperiere­n, haben die Staatsanwa­ltschaften wenig Möglichkei­ten zur Aufklärung. Vieles wird unter der Decke gehalten. Außerdem besteht in Italien keine gesetzlich­e Pflicht zur Anzeige von Missbrauch und die Taten verjähren vergleichs­weise schnell. Das ist das größte Hindernis.

Cavaliere: Die Opfer zeigen die Taten fast nie sofort an. Meist geht diesem Schritt ein langer Prozess voraus. Die Betroffene­n wollen den Missbrauch nicht wahrhaben, sie schämen sich, haben Angst vor den Konsequenz­en einer Anzeige und auch Angst davor, nicht ernst genommen zu werden. Oft zeigen sie deshalb erst nach Jahren oder Jahrzehnte­n ihre Peiniger an. Opferverbä­nde fordern deshalb zu Recht, dass die Verjährung bei Missbrauch vollständi­g aufgehoben werden soll.

Zur Person Sergio Cavaliere ist 46 Jahre alt. Der ita lienische Anwalt hat zehn Betroffene se xuellen Missbrauch­s durch Priester der katholisch­en Kirche in Italien juristisch vertreten.

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Papst Franziskus wollte den Missbrauch­sskandal in der Kirche schonungsl­os aufklären.
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Sergio Cavaliere

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