Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Christian Wulff schaut besorgt nach rechts

Gast der Redaktion Der frühere Bundespräs­ident spricht von einer Zeitenwend­e und fordert mehr Engagement gegen Populismus und warnt: „Die Demokratie klingelt nicht, wenn sie geht“

- VON JÖRG SIGMUND

Augsburg Der Satz hat damals kontrovers­e Diskussion­en ausgelöst und ihm selbst einigen Ärger eingebrach­t. „Der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschlan­d“, hat Christian Wulff am 3. Oktober 2010 zum 20. Jahrestag der Deutschen Einheit gesagt. Wulff war zu dieser Zeit Bundespräs­ident und er griff damit die Debatte zur Integratio­n der Muslime auf, die Thilo Sarrazin mit seinem Buch „Deutschlan­d schafft sich ab“kurz zuvor geschürt hatte. Ob er den Satz auch heute so sagen würde, wird er als Gast unserer Redaktion gefragt. Und Wulff antwortet: „Gerade heute würde ich ihn wiederhole­n.“

Der Satz begegne ihm im Übrigen immer wieder. In Gesprächen und selbst an der Supermarkt­kasse. Doch es sei Sarrazin gewesen, der den „Geist aus der Flasche gelassen hat“. „Und dieser Geist ist noch nicht in der Flasche zurück.“Es gebe in Deutschlan­d nach wie vor eine „pauschale, rassistisc­he Verunglimp­fung kleiner Gruppen“. Wulff erkennt „links wie rechts“eine Stimmung, sich abzuschott­en, ein- zuigeln und Mauern zu bauen. Es herrsche die Theorie, früher sei alles besser gewesen: „Wir erleben eine Glorifizie­rung, eine nostalgisc­he Verklärung der Vergangenh­eit“, sagt der 57-Jährige. „Das Leben in Vielfalt mit Religionen, Herkünften, Verhaltens­werten und Auffassung­en ist schwierige­r als gedacht.“Die Globalisie­rung sei völlig unterschät­zt worden.

Schon bei seiner Vereidigun­g zum Bundespräs­identen im Juli 2010 hatte

Seinen berühmtest­en Satz bereut er nicht

Wulff dafür geworben, auf andere Kulturen zuzugehen „in unserer bunten Republik Deutschlan­d“. Das tut der Niedersach­se auch jetzt als Privatmann, der häufig in der arabisch-islamische­n Welt unterwegs ist und den Dialog der Religionen sucht. Leider würden heute viel zu viele schlichten Parolen verfallen und mit der AFD sei sogar eine Partei entstanden, die den Islam ablehnt. „Wir dürfen nicht dulden, dass Reden wie die von Björn Höcke gehalten werden.“

macht sich Sorgen um die Demokratie. Sie sei nicht vom Himmel gefallen, „sondern sie wurde hart erkämpft und kann auch verloren gehen“. Wörtlich sagt er: „Die Demokratie klingelt nicht, wenn sie geht.“Das erlebe man gerade in der Türkei, die direkt auf dem Weg zur Diktatur sei. „Es passiert schleichen­d.“Die Welt bewege sich hin zu mehr Nationalis­mus. „Das haben wir bei den jüngsten Abstimmung­en in Italien, in Großbritan­nien und in den USA gespürt.“Wulff spricht von einem Zustand der Zeitenwend­e. Doch vor allem die Wahl Donald Trumps zum Us-präsidente­n könnte viele Menschen zum Umdenken bewegen. In der Bevölkerun­g finde gerade eine Politisier­ung statt. Wulff: „Wir müssen uns engagieren, vorbeugen, einschalte­n, widersprec­hen und gegenhalte­n.“Jetzt müsse man Flagge zeigen. Letztlich entscheide doch das Volk, „wo die Reise hingeht“.

Der frühere Bundespräs­ident und ehemalige niedersäch­sische Ministerpr­äsident plädiert für Aufgeschlo­ssenheit für Fremde und Fremdes. „Das zeichnet unser Land im Herzen Europas aus. Es hat uns stark, stolz und erfolgreic­h gemacht.“Vielfältig­e Gesellscha­ften seien leistungsf­ähiger, flexibler und innovative­r. Davon habe auch Deutschlan­d profitiert.

Wulff fordert Offenheit gegenüber Flüchtling­en, aber auch Haltung. Er betont in diesem Zusammenha­ng die christlich-jüdisch geprägte deutsche Leitkultur. „Wer zu uns kommt, muss sich klar dawulff

Das ist Christian Wulff

Person Christian Wulff stammt aus Osnabrück. Der 57 jährige Ju rist lebt heute nach einer zwischen zeitlichen Trennung wieder mit seiner zweiten Ehefrau Bettina zu sammen in Großburgwe­del. Wulff hat zwei Kinder aus zwei Ehen.

Karriere Der damalige CDU Poli tiker verlor in Niedersach­sen zwei Landtagswa­hlen gegen Gerhard Schröder, ehe er 2003 gegen Sig mar Gabriel gewann und Ministerpr­ä sident seines Heimatland­es wurde. Im Juli 2010 übernahm er das Amt des Bundespräs­identen bis zu sei nem Rücktritt im Februar 2012. (AZ) nach richten.“Den Asylbewerb­ern müsse diese Leitkultur konsequent bewusst gemacht werden. „Wer gastfreund­lich ist und eine Willkommen­skultur hat, kann auch fordern“, sagt er. Wer den Flüchtling­en jedoch feindselig begegne, werde nichts erreichen. Auch aus Kanada, Australien und Neuseeland höre er: Die gesamte Einwanderu­ngspolitik steht und fällt damit, dass die Menschen dahinterst­ehen und sich darauf verlassen können, dass Gesetze, Kriterien und Anforderun­gen gelten.

Die Diskussion um die Leitkultur in Deutschlan­d, sagt Wulff, hätte man zu Ende führen müssen und nicht abbrechen dürfen. „Denn selbstvers­tändlich haben wir eine Leitkultur: Unser Grundgeset­z, das die Würde eines jeden Menschen und die Religionsf­reiheit garantiert.“Die jetzigen Gesetze könnten nach seiner Meinung zu einem Einwanderu­ngsgesetz zusammenge­fasst werden, wenn der Ansturm der Flüchtling­e bewältigt und Normalität eingekehrt ist. „Dann könnte ein System geschaffen werden, dass Menschen auch legal hierherkom­men können.“

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Foto: Ulrich Wagner Christian Wulff ist auch als Elder Statesman viel unterwegs. Er kämpft für ein liberales Europa.

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