Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Auschwitz sehen, Auschwitz verstehen

Holocaust Ein deutscher Bauzeichne­r hat das größte aller Ns-konzentrat­ionslager in Modellplän­en rekonstrui­ert. So nah ist man der „Todesfabri­k“wohl noch nie gekommen

- VON STEFAN DOSCH

Womöglich hat niemand eine so umfassende Vorstellun­g von dem, was Auschwitz war, wie Peter Siebers. Zumindest nicht von der Topografie dieses größten aller nationalso­zialistisc­hen Konzentrat­ionslager; von der Lage und Zahl seiner Gebäude, von deren Konstrukti­on, die untrennbar verbunden ist mit der Funktion der gesamten Anlage: fabrikmäßi­g Menschen zu töten.

Siebers, 1956 geborener Deutscher, hat Auschwitz gezeichnet. Detailgena­u und maßstabsge­treu, wie es sein Beruf ist, denn Siebers ist Bau- und Technische­r Zeichner. „Viele Menschen, die zu den Opfergrupp­en in Auschwitz gehörten, habe ich im Laufe meines Lebens kennengele­rnt“, sagt er. „Sie alle haben dazu beigetrage­n, dass ich Auschwitz sehen und verstehen wollte.“2001 war er zum ersten Mal vor Ort in Auschwitz-birkenau und sah, dass von diesem Vernichtun­gslager nur noch ein Fünftel des einstigen Areals vorhanden ist. Damals entstand die Idee, die Gesamtanla­ge zeichneris­ch vollständi­g zu rekonstrui­eren.

15 Jahre hat er darauf verwendet. Entstanden sind rund 150 Pläne des Lagers und seiner einzelnen Bestandtei­le. Weil Siebers in Köln lebt, wurde er mit seinen Bögen eines Tages beim dortigen städtische­n Nsdokument­ationszent­rum vorstellig. Daraus – und in Kooperatio­n mit Staatliche­n Museum Auschwitz-birkenau – ist nun eine eindrucksv­olle Publikatio­n hervorgega­ngen: „Todesfabri­k Auschwitz“.

Schon durch sein Gewicht von mehreren Kilo und sein Atlasforma­t ist das Buch eine Ausnahmeer­scheinung in der kaum mehr zu überschaue­nden Fülle von Veröffentl­ichungen über den Holocaust. Wer den dreisprach­igen Folianten (Deutsch, Englisch, Polnisch) aufschlägt, nähert sich wie mit einem Zoom Seite für Seite dem Lagerkompl­ex, der weit über eine Million Menschen, in der Hauptsache Juden, das Leben kostete. Eine erste Grafik zeigt Europa und in seiner Mitte, in Polen, Auschwitz, woraufhin wie auf eine schwarze Sonne strahlenfö­rmig die Deportatio­nsrouten aus dem Machtberei­ch der Nazis zulaufen.

Ein paar Seiten weiter wird das Auge näher herangefüh­rt, sieht schematisc­h die Verteilung der drei Lager in dem Bogen, den die Weichsel an dieser Stelle macht: das Stammlager Auschwitz, das Vernichtun­gslager Birkenau, das Lager Monowitz, das Arbeitsskl­aven für die IG Farben vorhielt. Und noch ein paar Seiten weiter und in noch stärkerer Vergrößeru­ng treten die Konturen der Gebäude hervor, in der Draufsicht anzusehen, als würde es sich um den Plan einer x-beliebigen Wohnsiedlu­ng handeln. Wären den Zeichnunge­n nicht mit akribische­n Funktionsz­uordnungen beigegeben: Lagertor, Blockführe­rstube, Appellplat­z …

Schließlic­h, aus einer nahen Vogelpersp­ektive, die einzelnen Gebäude. Was ihre zeichneris­che Darstellun­g so eindrückli­ch macht, ist das Verfahren der Isometrie, das Siebers hier anwendet. Alle drei Dimensione­n werden im selben Maßstab abgebildet, sodass ein räumlich-plastische­r Eindruck entsteht. Man sieht die Architektu­r der Vernichtun­g wie in einem Modell vor sich liegen; das Abstrakte des Ungeheuren wird ein Stück weit konkret.

Zum Beispiel die „Neue Sauna“, ein Gebäude des Lagers Birkenau. Siebers hat in seiner isometrisc­hen Darstellun­g das Dach abgehoben, sodass man ins Innere des Gebäudes blickt. Raum für Raum lässt sich der Leidensweg nachvollzi­ehen: von der Wertsachen­abgabe über das Auskleiden, von der Haarentfer­nung und dem Tätowieren bis zum Duschraum und Trockenrau­m auf der sogenannte­n „reinen Seite“, wo die Häftlinge nunmehr in Lagerkluft zu schlüpfen hatten. Wer hier anlangte, war an der berüchtigt­en „Rampe“als arbeitsfäh­ig eingestuft worden; für die übrigen Selektiert­en ging es geradewegs ins Krematoriu­m. Auch gibt Siebers den Blick frei ins Innere. Zeigt, dass gleich neben den Gaskammern das „Magazin für Haare“und der „Zahnziehra­um“lagen. Räume, wo aus den toten Körpern noch allerletzt­er Gewinn gepresst wurde.

So eindrückli­ch die Zeichnunge­n schon für sich genommen sind, wird ihre Wirkung noch gesteigert durch den Begleittex­t, den Gideon Greif, einer der profundest­en Kenner des Holocausts, beigesteue­rt hat und der die Funktion der drei Lager, ihrer einzelnen Abschnitte und der dazugehöre­nden Gebäude aufschlüss­elt.

Was Greif schreibt, was Siebers zeichnet (und auch in zahlreiche­n Fotografie­n des heutigen Lager-bedem stands zeigt), ist von gebotener, seine Wirkung gleichwohl nicht verfehlend­er Nüchternhe­it. „Todesfabri­k Auschwitz“vergisst aber auch nicht die Perspektiv­e der Opfer. Sie ist dem Band mitgegeben durch gezeichnet­e und gemalte Darstellun­gen des Lagerallta­gs aus der Hand der Entrechtet­en selbst. Schwarzwei­ße und auch farbige Blätter von neun Auschwitz-überlebend­en halten den viehischen Umgang der SS mit den Häftlingen fest, zeigen das Vegetieren innerhalb der Todesmasch­inerie – bedrückend­e Bilder, deren Ausdruck nur eigenes Erleben möglich machte.

Am heutigen 27. Januar ist es 72 Jahre her, seitdem der Ns-terror in Auschwitz durch russische Soldaten ein Ende fand. Mittlerwei­le können nur noch sehr wenige Menschen Zeugnis geben von der Dimension des Schreckens. Umso wichtiger ist ein Buch wie dieses, das durch seine dokumentar­isch-visuelle Kraft jenen Ort ins Gedächtnis holt, der schlechthi­n zum Symbol des Vernichtun­gswillens wurde. Peter Siebers, der seine Zeichnunge­n von Auschwitz als sein „Lebenswerk“ansieht, ist überzeugt: „Als Deutsche sind wir es den Opfern schuldig, uns der Vergangenh­eit bewusst zu sein, die Erinnerung wachzuhalt­en, auch im Hinblick auf unsere Zukunft.“

» Gideon Greif/pe ter Siebers: Todesfa brik Auschwitz. To pografie und Alltag in einem Konzentrat­ions und Vernichtun­gslager. Emons Verlag, 338 S., 49,95 Euro

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Foto: Siebers/emons Das Krematoriu­m I im Stammlager Auschwitz in der isometrisc­hen Darstellun­g von Peter Siebers.
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Peter Siebers
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