Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Auschwitz sehen, Auschwitz verstehen
Holocaust Ein deutscher Bauzeichner hat das größte aller Ns-konzentrationslager in Modellplänen rekonstruiert. So nah ist man der „Todesfabrik“wohl noch nie gekommen
Womöglich hat niemand eine so umfassende Vorstellung von dem, was Auschwitz war, wie Peter Siebers. Zumindest nicht von der Topografie dieses größten aller nationalsozialistischen Konzentrationslager; von der Lage und Zahl seiner Gebäude, von deren Konstruktion, die untrennbar verbunden ist mit der Funktion der gesamten Anlage: fabrikmäßig Menschen zu töten.
Siebers, 1956 geborener Deutscher, hat Auschwitz gezeichnet. Detailgenau und maßstabsgetreu, wie es sein Beruf ist, denn Siebers ist Bau- und Technischer Zeichner. „Viele Menschen, die zu den Opfergruppen in Auschwitz gehörten, habe ich im Laufe meines Lebens kennengelernt“, sagt er. „Sie alle haben dazu beigetragen, dass ich Auschwitz sehen und verstehen wollte.“2001 war er zum ersten Mal vor Ort in Auschwitz-birkenau und sah, dass von diesem Vernichtungslager nur noch ein Fünftel des einstigen Areals vorhanden ist. Damals entstand die Idee, die Gesamtanlage zeichnerisch vollständig zu rekonstruieren.
15 Jahre hat er darauf verwendet. Entstanden sind rund 150 Pläne des Lagers und seiner einzelnen Bestandteile. Weil Siebers in Köln lebt, wurde er mit seinen Bögen eines Tages beim dortigen städtischen Nsdokumentationszentrum vorstellig. Daraus – und in Kooperation mit Staatlichen Museum Auschwitz-birkenau – ist nun eine eindrucksvolle Publikation hervorgegangen: „Todesfabrik Auschwitz“.
Schon durch sein Gewicht von mehreren Kilo und sein Atlasformat ist das Buch eine Ausnahmeerscheinung in der kaum mehr zu überschauenden Fülle von Veröffentlichungen über den Holocaust. Wer den dreisprachigen Folianten (Deutsch, Englisch, Polnisch) aufschlägt, nähert sich wie mit einem Zoom Seite für Seite dem Lagerkomplex, der weit über eine Million Menschen, in der Hauptsache Juden, das Leben kostete. Eine erste Grafik zeigt Europa und in seiner Mitte, in Polen, Auschwitz, woraufhin wie auf eine schwarze Sonne strahlenförmig die Deportationsrouten aus dem Machtbereich der Nazis zulaufen.
Ein paar Seiten weiter wird das Auge näher herangeführt, sieht schematisch die Verteilung der drei Lager in dem Bogen, den die Weichsel an dieser Stelle macht: das Stammlager Auschwitz, das Vernichtungslager Birkenau, das Lager Monowitz, das Arbeitssklaven für die IG Farben vorhielt. Und noch ein paar Seiten weiter und in noch stärkerer Vergrößerung treten die Konturen der Gebäude hervor, in der Draufsicht anzusehen, als würde es sich um den Plan einer x-beliebigen Wohnsiedlung handeln. Wären den Zeichnungen nicht mit akribischen Funktionszuordnungen beigegeben: Lagertor, Blockführerstube, Appellplatz …
Schließlich, aus einer nahen Vogelperspektive, die einzelnen Gebäude. Was ihre zeichnerische Darstellung so eindrücklich macht, ist das Verfahren der Isometrie, das Siebers hier anwendet. Alle drei Dimensionen werden im selben Maßstab abgebildet, sodass ein räumlich-plastischer Eindruck entsteht. Man sieht die Architektur der Vernichtung wie in einem Modell vor sich liegen; das Abstrakte des Ungeheuren wird ein Stück weit konkret.
Zum Beispiel die „Neue Sauna“, ein Gebäude des Lagers Birkenau. Siebers hat in seiner isometrischen Darstellung das Dach abgehoben, sodass man ins Innere des Gebäudes blickt. Raum für Raum lässt sich der Leidensweg nachvollziehen: von der Wertsachenabgabe über das Auskleiden, von der Haarentfernung und dem Tätowieren bis zum Duschraum und Trockenraum auf der sogenannten „reinen Seite“, wo die Häftlinge nunmehr in Lagerkluft zu schlüpfen hatten. Wer hier anlangte, war an der berüchtigten „Rampe“als arbeitsfähig eingestuft worden; für die übrigen Selektierten ging es geradewegs ins Krematorium. Auch gibt Siebers den Blick frei ins Innere. Zeigt, dass gleich neben den Gaskammern das „Magazin für Haare“und der „Zahnziehraum“lagen. Räume, wo aus den toten Körpern noch allerletzter Gewinn gepresst wurde.
So eindrücklich die Zeichnungen schon für sich genommen sind, wird ihre Wirkung noch gesteigert durch den Begleittext, den Gideon Greif, einer der profundesten Kenner des Holocausts, beigesteuert hat und der die Funktion der drei Lager, ihrer einzelnen Abschnitte und der dazugehörenden Gebäude aufschlüsselt.
Was Greif schreibt, was Siebers zeichnet (und auch in zahlreichen Fotografien des heutigen Lager-bedem stands zeigt), ist von gebotener, seine Wirkung gleichwohl nicht verfehlender Nüchternheit. „Todesfabrik Auschwitz“vergisst aber auch nicht die Perspektive der Opfer. Sie ist dem Band mitgegeben durch gezeichnete und gemalte Darstellungen des Lageralltags aus der Hand der Entrechteten selbst. Schwarzweiße und auch farbige Blätter von neun Auschwitz-überlebenden halten den viehischen Umgang der SS mit den Häftlingen fest, zeigen das Vegetieren innerhalb der Todesmaschinerie – bedrückende Bilder, deren Ausdruck nur eigenes Erleben möglich machte.
Am heutigen 27. Januar ist es 72 Jahre her, seitdem der Ns-terror in Auschwitz durch russische Soldaten ein Ende fand. Mittlerweile können nur noch sehr wenige Menschen Zeugnis geben von der Dimension des Schreckens. Umso wichtiger ist ein Buch wie dieses, das durch seine dokumentarisch-visuelle Kraft jenen Ort ins Gedächtnis holt, der schlechthin zum Symbol des Vernichtungswillens wurde. Peter Siebers, der seine Zeichnungen von Auschwitz als sein „Lebenswerk“ansieht, ist überzeugt: „Als Deutsche sind wir es den Opfern schuldig, uns der Vergangenheit bewusst zu sein, die Erinnerung wachzuhalten, auch im Hinblick auf unsere Zukunft.“
» Gideon Greif/pe ter Siebers: Todesfa brik Auschwitz. To pografie und Alltag in einem Konzentrations und Vernichtungslager. Emons Verlag, 338 S., 49,95 Euro