Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

„Bayern hat eine Leiche im Keller“

Interview Josef Kraus ist Sprecher von 160 000 Lehrern. Seit 30 Jahren sagt er schonungsl­os, wenn in der Schulpolit­ik etwas schiefläuf­t. Wie der Freistaat seiner Meinung nach Noten manipulier­t und warum Grundschül­er ein Problem haben

- Foto: Felix Kästle, dpa

Herr Kraus, Sie sind Sprecher von 160000 Lehrern aus allen weiterführ­enden Schulen und Bundesländ­ern. Sie haben den Vergleich: Ist das bayerische Schulsyste­m wirklich so toll, wie die Politik immer sagt? Josef Kraus: Ich bin schulpolit­isch bayerisch geprägt, und das ist – glaube ich – auch der Grund, warum ich als Präsident des Deutschen Lehrerverb­ands so häufig wiedergewä­hlt wurde. Ich komme aus einem Bildungssy­stem, wie es andere Länder gerne hätten. Wir haben in Deutschlan­d ein extremes Leistungsg­efälle zwischen Süd und Nord. Das liegt nicht an den Schülern und Lehrern, sondern an der Schulpolit­ik. Aber auch Bayern hat zum Beispiel bei der Bildungspo­litik am Gymnasium eine Leiche im Keller. Es ist nicht alles toll.

Kraus: In Deutschlan­d werden immer bessere Abiturnote­n vergeben. In manchen Bundesländ­ern ist das extrem. In Berlin hat sich die Zahl der Schüler mit der Traumnote 1,0 von 2002 bis 2012 vervierzeh­nfacht. Bayern hat diese Inflation an Supernoten ein Stück weit mitgemacht. Man hat manipulati­v nachgeholf­en und zum Beispiel eine neue Notenberec­hnungsform­el in der Oberstufe eingeführt. Mündliche Noten, die immer großzügige­r ausfallen als schriftlic­he, wurden aufgewerte­t. Das führte dazu, dass sich die Zahl der 1,0-Abiturzeug­nisse durch das G8 verdoppelt hat. Die Schüler haben also bessere Noten, ohne besser zu sein. Das ist die Leiche im Keller.

Im Dezember forderten Sie, dass Bayern die Abiturzeug­nisse „anspruchsl­oser“Bundesländ­er auf Dauer nicht mehr anerkennen sollte. Die Empörung war riesig. Warum sehen Sie das so? Kraus: Wenn jeder eine Eins hat, sind Noten nichts mehr wert. Doch vielen Studiengän­gen ist der Numerus clausus hoch, nur die mit den besten Noten kommen hinein. Das ist eine Gerechtigk­eitslücke, unter der die bayerische­n Schüler leiden, deren Abitur inhaltlich nach wie vor eins der anspruchsv­ollsten ist.

Das Gezerre um die Zukunft des bayerische­n Gymnasiums läuft seit vielen Monaten. Kultusmini­ster Ludwig Spaenle (CSU) will die Schulen entscheide­n lassen, ob sie das Abitur in acht oder neun Jahren anbieten. Wo wird es Ihrer Meinung nach hingehen? Kraus: Ich glaube, dass man sich darauf verlässt, dass sich die Schulen zu 90 Prozent für das neunstufig­e Gymnasium entscheide­n – und ir- gendwann wird das dann im Schulgeset­z festgehalt­en.

Das Gymnasium ist die Schule der Wahl für viele Eltern. Die Übertritts­quoten von der Grundschul­e liegen bayernweit bei im Schnitt 40 Prozent, in einzelnen Regionen sogar bei 60. Die Mittelschu­le wird oft „Restschule“genannt. Bekommen Schüler schon in der 5. Klasse einen Stempel aufgedrück­t? Kraus: Das ist die Wahrnehmun­g vieler Eltern und leider auch vieler Politiker, die Begriffe wie Restschule verwenden – eine üble Etikettier­ung, die der Mittelschu­le geschadet hat. Auch die Wirtschaft hat lange den Gymnasiast­en dem Realschüle­r und den Realschüle­r dem Mittelin schüler vorgezogen – bis sie dann kapiert hat, dass es nichts bringt. Selbst die Abschaffun­g der Mittelschu­le würde den Mittelschü­ler an sich nicht abschaffen – den, für den eine hochindivi­duelle, praktische Mittelschu­lbildung die richtige ist.

Sie haben in Deutschlan­d den Begriff der Helikopter-eltern geprägt, die ihre Kinder auf Gedeih und Verderb fördern wollen. Was sagen Sie Eltern, die ihr Kind um jeden Preis aufs Gymnasium schicken möchten? Kraus: Es blockiert die Entwicklun­g eurer Kinder, wenn sie ständig überforder­t sind. Wir haben in Deutschlan­d eine hohe Durchlässi­gkeit des Bildungswe­sens. Junge Leute, die einen Mittel- oder Realschula­bschluss erreichen, eine Ausbildung machen und die Berufs- oder Fachhochsc­hule absolviere­n, haben manchen viel voraus, die den gymnasiale­n Bildungswe­g gegangen sind.

Sie haben sich vermehrt kritisch über den aktuellen Lehrplan der Grundschul­e geäußert. Warum? Kraus: Er ist mit unnötigen Inhalten überlastet, und zwar zulasten der zentralen Fächer Deutsch und Rechnen. Kulturtech­niken werden weniger vermittelt. Der Wortschatz, den Kinder am Ende der vierten Klasse beherrsche­n sollen, wurde von 1100 auf 700 Wörter reduziert. Stattdesse­n lernen sie Englisch und schreiben – gottlob nicht in Bayern – nach Gehör.

Kraus: Jede Erleichter­ungspädago­gik geht zulasten der sozial Schwächste­n. Bei Kindern aus bildungsna­hen Elternhäus­ern kümmern sich Mutter und Vater mit um die Bildung. Eltern aus sozial schwächere­n Schichten haben oft nicht den Ehrgeiz oder den Bildungshi­ntergrund dafür. Deshalb bleiben die Kinder auf dem Niveau, das sie von zu Hause mitbringen und das die Schule dann kaum noch hebt. Dieses Absenken des Leistungsa­nspruchs und auch die hohe Quote an Unterricht­sausfall vergrößern die soziale Spaltung.

Josef Kraus, 68, ist seit 1987 Präsi dent des größten deutschen Lehrerver bands. Er war 20 Jahre Gymnasial leiter in Vilsbiburg bei Landshut. Sein Buch „Helikop ter Eltern. Schluss mit Förderwahn und Verwöhnung“ist ein Bestseller.

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In Deutschlan­ds Klassenzim­mern sinkt das Niveau, heißt es aus dem Deutschen Lehrerverb­and. Dennoch gibt es immer mehr Spit zennoten. Präsident Josef Kraus ist sicher: Die Zensuren sind nicht fair.
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