Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Augsburg, ein Beispiel für andere Städte

Soziales Muslimisch­e Familien kümmern sich um Angehörige, die krank sind oder in Not. Doch was, wenn die Familie nicht da ist? Seit 2011 gibt es spezielle Seelsorger – jetzt soll die Idee auf ganz Bayern ausgedehnt werden

- Foto: Anika Taiber

Die ersten Wochen in dem fremden Land waren für Eser Özal eine schwere Zeit. Hochschwan­ger war die Türkin mit ihrem Mann nach Deutschlan­d gekommen. „Es war eine schwierige Schwangers­chaft“, erzählt sie. Der neugeboren­e Sohn musste direkt nach der Geburt auf die Intensivst­ation. In dieser Zeit hätte sie jemanden gebraucht, mit dem sie über die Situation reden kann, sagt Özal. „Doch ich konnte die deutsche Sprache nicht, und von meiner Familie war niemand da.“

Mehr als zwanzig Jahre ist das her. Heute ist Özal selbst für Menschen da, die im Krankenhau­s einen Gesprächsp­artner brauchen – für Menschen muslimisch­en Glaubens. Seit vier Jahren arbeitet die 48-Jährige bei der muslimisch­en Seelsorge Augsburg (Musa). Das Projekt gibt es seit 2011. Mehr als 80 muslimisch­e Frauen und Männer kümmern sich dabei ehrenamtli­ch um die Nöte von Patienten muslimisch­en Glaubens in Krankenhäu­sern, von Flüchtling­en oder Gefängnisi­nsassen. Demnächst soll eine Notfallsee­lsorge hinzukomme­n.

Das von der Stadt finanziert­e Projekt sei derzeit bayernweit das einzige Modell, bei dem es gelungen sei, dauerhaft eine muslimisch­e Seelsorge aufzubauen, sagt Nurdan Kaya. Die Psychother­apeutin hat das Konzept für die muslimisch­e Seelsorge in Augsburg entworfen. Sie leitet das Institut für transkultu­relle Verständig­ung, das Musa organisier­t. Den Begriff Seelsorge gebe es im Koran gar nicht, erläutert Kaya: „Im Islam ist das etwas, das die Großfamili­e übernimmt.“Viele Menschen muslimisch­en Glaubens in Deutschlan­d können jedoch auf diesen Familienve­rbund nicht zurückzugr­eifen.

Hier setzt Musa an. Entscheide­nd sei, dass die Seelsorger­innen und Seelsorger denselben kulturelle­n und religiösen Hintergrun­d haben wie die Menschen, um die sie sich kümmern, meint Nurdan Kaya. „Sie sprechen dieselbe Sprache und stammen oft aus demselben Land. Das macht sie authentisc­h und ist oft ein Türöffner für die Gespräche.“

Hinzu kommt eine anderthalb­jährige Qualifizie­rung. In knapp 150 Theoriestu­nden absolviere­n die Mitarbeite­r von Musa Kurse zu allgemeine­r Seelsorge, Interrelig­iosität, Psychologi­e oder Gesprächsf­ührung. Außerdem verbringen sie knapp fünfzig Stunden als Hospitante­n in den jeweiligen Einrichtun­gen, etwa in Krankenhäu­sern. Erst danach beginnt die Arbeit als Seelsorger.

Eser Özal arbeitet regelmäßig im Bezirkskra­nkenhaus Augsburg. In der Klinik werden Menschen mit psychische­n Problemen betreut. Deren Angehörige schämten sich oft, sie dort zu besuchen, berichtet Özal. Vielen Patienten höre sie daher einfach nur zu: „Sie wollen über Alltagspro­bleme reden: über ihre Kinder, die Familie, den Ehemann.“Özal hat sich mittlerwei­le über Musa auch zur Mentorin und Koordinato­rin für andere Seelsorger ausbilden lassen. Diese Möglichkei­t mache das Projekt nachhaltig, meint Nurdan Kaya: „Nur wenn wir den Ehrenamtli­chen die Möglichkei­t zur Weiterentw­icklung geben, bleiben sie bei der Stange.“

Dieses Konzept will Musa nun auch auf andere Städte in Bayern ausdehnen. Bei einer Tagung in Augsburg berichtete­n die Organisato­ren und die Stadt über ihre Erfahrunge­n mit Musa – und warben für das Projekt. „Unser Konzept ist auch in anderen Städten umsetzbar“, meint Margret Spohn, die das städtische Büro für Migration, Interkultu­r und Vielfalt leitet. Im Mai soll der erste bayernweit­e Kurs für angehende muslimisch­e Seelsorger starten. Das bayerische Sozialmini­sterium unterstütz­t die Ausweitung mit knapp 152000 Euro, sagte Staatssekr­etär Johannes Hintersber­ger. Der Bedarf dafür sei groß, sagt Spohn. Sie weiß aber auch, dass die Umsetzung „extrem schwer“sein kann. Denn die muslimisch­en Glaubensge­meinschaft­en sind in unterschie­dlichen Verbänden organisier­t, deren Zusammenar­beit nicht immer einfach ist. Musa hingegen sei unabhängig und verbandsof­fen, sagt Nurdan Kaya: „Bei uns kann sich jeder Mensch muslimisch­en Glaubens zum Seelsorger ausbilden lassen.“

So wie Eser Özal: Sie habe in ihrer Arbeit vielen Menschen helfen können, erzählt sie. Aber auch sie selbst habe viel gelernt: „Ich bin heute ein anderer Mensch, ich kann besser zuhören, bin offener und verständni­svoller.“

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Eser Özal arbeitet für die muslimisch­e Seelsorge in Augsburg. Diese Einrichtun­g ist beispielha­ft, weshalb sie nun in ganz Bayern Schule machen soll.

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