Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
„Man muss sich nur trauen“
Erste Hilfe In Deutschland beginnen im Notfall vergleichsweise wenig Menschen mit Wiederbelebungsmaßnahmen. Dabei erhöht die Laienreanimation die Überlebenschancen drastisch
München Wenn der Notfallmediziner Dr. Jan Breckwoldt auf einer Party ein gutes Gesprächsthema sucht, stellt er gerne folgende Frage: „Woran erinnerst du dich eigentlich noch aus deinem Erste-hilfekurs?“Die Antworten fallen immer ähnlich aus, erzählt er, nämlich so: „Keine Ahnung, ist schon ewig her.“Vielen Gästen fällt noch ein, dass sie „die fünf W-fragen“und die stabile Seitenlage gelernt haben – aber an keines von beidem können sie sich so richtig erinnern.
Der Anästhesist von der Universität Zürich will mit dieser Anekdote zeigen, dass so einiges schief läuft beim Thema Laien und Erste Hilfe. „Man braucht weder die fünf ‘Ws‘ noch die stabile Seitenlage“, sagt er. Denn wer die Notrufnummer „112“wählt, wird vom Leitstellen-disponenten ohnehin alles Wichtige gefragt. Und dafür, dass die stabile Seitenlage etwas bringt, gebe es „keinerlei Evidenz“, betont Breckwoldt. Sie lenke die Ersthelfer oft vom Wesentlichen ab: „Viele legen einen Patienten mit Herzstillstand auf die Seite, anstatt ihn zu reanimieren.“
Die Party-gespräche machen zweierlei deutlich: Zum einen frischen viele Bundesbürger ihre Erste-hilfe-kenntnisse nicht regelmäßig auf. Eine Forsa-umfrage im Auftrag der Johanniter-unfallhilfe ergab, dass bei über 30 Prozent der Befragten der letzte Erste-hilfekurs mehr als zehn Jahre zurücklag. Zum anderen sind viele Lehrgänge mit Nebensächlichem überfrachtet, wie Breckwoldt kritisiert. Anstatt sich auf essentielle Dinge zu konzentrieren, lernen Laien in den gängigen Grundkursen oft umfangreiches Wissen zu allen möglichen Eventualitäten: Was tun mit einem ausgeschlagenen Zahn? Wie transportiert man einen abgeschnittenen Finger? Die Informationsflut kann dazu führen, dass die Teilnehmer am Ende eher verwirrt und verunsichert sind. Ebendas kann fatale Folgen haben: Bei der Forsa-umfrage trauten sich 44 Prozent der Befragten aus Angst vor Fehlern nicht zu, Erste Hilfe zu leisten.
„Es ist so einfach zu helfen“, betont Dr. Tobias Benthaus von der Deutschen Gesellschaft für Erste Hilfe in München. „Man muss sich nur trauen!“Vor allem bei einem Kreislaufstillstand ist der Einsatz der Laien gefordert: Wird nicht innerhalb von fünf Minuten mit der Herzdruckmassage begonnen, hat der Betroffene deutlich schlechtere Überlebenschancen. Da der Rettungswagen in Deutschland oft erst nach etwa zehn Minuten vor Ort ist, müssen Laien diese Zeit überbrücken. Der Anästhesist PD Dr. Janthorsten Gräsner vom Universitätsklinikum Schleswig-holstein sagt: „Ganz entscheidend ist, den Leuten für diese Fälle zu vermitteln: Wenn man nichts macht, stirbt der Betroffene. Man kann also nichts verkehrt machen!“Denn „toter als tot“geht nicht.
Hierzulande hat sich diese Erkenntnis offenbar noch nicht durchgesetzt. In Deutschland beginnen in Notfällen vergleichsweise wenige Menschen mit der Wiederbelebung: vergangenen Jahr geschah das bei 34 Prozent der Fälle, wie Gräsner berichtet, der auch Sprecher des Organisationskomitees des Deutschen Reanimationsregisters ist. „Diese Quote hat sich erheblich verbessert“, sagt Gräsner. Innerhalb von fünf Jahren habe sie sich nämlich unter anderem dank massiver Öffentlichkeitsarbeit verdoppelt. „Trotzdem ist sie immer noch zu niedrig.“Der Schnitt liegt in der EU nämlich bei etwa 50 Prozent. „Spitzenreiter ist Skandinavien mit 70 bis 80 Prozent“, berichtet Gräsner.
Was machen Länder wie Norwegen und Schweden so viel besser? „Sie haben viel früher mit dem begonnen, was jetzt auch hier gemacht wird“, sagt Gräsner. Dazu gehört, bereits Schüler in Wiederbelebung auszubilden und die klassischen Lehrgänge durch „niederschwellige Angebote“zu ergänzen. Vielerorts werden inzwischen auch kurze Kurse angeboten, in denen Laien lebensrettende Maßnahmen in ein bis zwei Stunden gezeigt werden. Trotzdem möchte Gräsner an den herkömmlichen Erstehilfe-schulungen, wie sie für Führerscheinkandidaten sind, festhalten: brauchen beides.“
Benthaus plädiert dafür, stärker auf entschlackte Kurse zu setzen. „Kürzer ist mehr“, sagt der Notarzt, der regelmäßig Ersthelfer unterrichtet. „Wir machen alles viel zu kompliziert! Um die Basismaßnahmen zu lernen, braucht man vielleicht 15 Minuten.“Außerdem hält er es für wichtig, Laien von Druck zu befreien. „Ein Ersthelfer muss nicht diagnostizieren. Er muss nur erkennen: Das hier gefällt mir nicht.“Um richtig zu reagieren, müssen Augenzeugen vor allem einen Kreislaufstillstand erkennen: Der Betroffene reagiert nicht und atmet entweder gar nicht oder nicht normal.
Ansonsten setzt Benthaus auf eine positive Einstellung und möchte die Erkenntnis vermitteln: „Jeder kann helfen“. Die Drohung, wegen unterlassener Hilfeleistung verklagt zu werden, motiviere dagegen niemanden zu beherztem Eingreifen. Es gefällt ihm auch nicht, wenn Laien mangelndes Engagement unterstellt wird. In den 20 Jahren, die er Rettungswageneinsätze fährt, hat sich bei ihm der Eindruck verfestigt, dass die Hilfsbereitschaft „extrem groß“ist. „Es wird
immer geim vorgeschrieben „Wir holfen. Nur dauert es unterschiedlich lang, bis geholfen wird“, berichtet der Arzt.
Kernstück jedes Erste-hilfekurses sollten die Wiederbelebungsmaßnahmen sein. 30-mal drücken, zweimal beatmen – so lernt man es nach wie vor. Eigentlich reicht es, wenn Laien sich auf die Herzdruckmassage (100-mal drücken pro Minute) konzentrieren. Die Atemspende wird in der aktuellen Leitlinie zu Reanimation nur „trainierten Helfern“empfohlen. Aber auf wen trifft das zu? Auf jeden, der einen Erste-hilfe-kurs gemacht hat, findet Gräsner. Es sei zwar richtig, dass die Herzdruckmassage zunächst reiche. „Aber das geht nur fünf Minuten lang gut. Dann wird sauerstoffarmes Blut durch den Körper gepumpt“, erklärt er. Dagegen findet Benthaus, die Atemspende sei viel zu wenig effektiv: „Es gibt keine geübten Mund-zu-mund-beatmer.“
Was heißt das nun für den Laien? In der Tat gebe es eine Kontroverse darüber, ob die Atemspende überhaupt empfohlen werden soll, sagt Breckwoldt. „Ein Konsens besteht aber darin, dass die Herzdruckmassage um ein Vielfaches wichtiger ist als die Beatmung“, betont er. Das heißt: Auf jeden Fall sollten Helfer bei einem Kreislaufstillstand schnell und fest drücken, etwa 100 mal pro Minute. Das entspricht etwa dem Rhythmus des Bee-gee-hits „Stayin’ alive“. „Die Laienreanimation verdreifacht die Überlebenschance bei einem Kreislaufstillstand“, sagt Breckwoldt. „Es gibt kein Medikament, das so effektiv ist.“