Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Rettig: „Da graut es einem“

Interview St. Paulis Sportdirek­tor über Politik und Fußball, die Schere zwischen Arm und Reich bei den Profis sowie den Mythos des Hamburger Zweitligis­ten

- Foto: Witters

Die sportliche Situation ist aktuell kritisch, aber der Mythos lebt. Was macht den FC St. Pauli aus? Rettig: Man fühlt sich gut am Millerntor, man ist willkommen. Man kann den Klub meiner Meinung nach nicht kopieren. Hier ist Fußball geerdet, bodenständ­ig, normal, hier geht es in erster Linie um den Sport. Das merken die Leute. Kein Schnicksch­nack, hier nimmt sich keiner zu wichtig. Der Fußball ist der Mittelpunk­t, das macht den Mythos aus.

Und auf der anderen Seite des Fußballs stehen ausgeglied­erte Kapitalges­ellschafte­n. Rettig: Ich bin weit davon entfernt, mit dem Finger auf ausgeglied­erte Kapitalges­ellschafte­n zu zeigen. Am Ende ist es von der Management­qualität abhängig, ob irgendetwa­s funktionie­rt. Eine Pflaume bleibt auch bei Ausglieder­ung eine Pflaume. Ob man in einer ausgeglied­erten Gesellscha­ft oder in einem eingetrage­nen Verein den Laden nicht führen kann, ändert am Ergebnis nichts. Der Unterschie­d ist und bleibt meiner Meinung nach: Leute in einem eingetrage­nen Verein haben ein anderes Verantwort­ungsbewuss­tsein. Das ist mein Verein, meine Stimme und mein Beitrag, was zählt.

Das Angebot aus Hamburg für Sie war damals vergleichs­weise finanziell unattrakti­v. Rettig: Na ja, wir verdienen schon alle gut im Profifußba­ll. Es muss sich niemand sorgen. Ich habe aber für mich entschiede­n, nach 25 Jahren und vier tollen Aufstiegen in die Bundesliga dem Leitsatz „Arbeitszei­t ist Lebenszeit“zu folgen. Deshalb habe ich mich für den Verein entschiede­n, bei dem ich glaube, die höchste Jobzufried­enheit zu haben.

Der FC St. Pauli hat eine politische Dimension. Ein Qualitätsk­riterium? Rettig: Uneingesch­ränkt. Dass der Klub eine politische Dimension hat, ist klar. Wir haben zu wenig Vereine, die sich politisch bekennen. Wenn man sieht, was in unserem Lande los ist, rechtslast­ige Tendenzen bei uns, in ganz Europa, Trump, da graut es einem.

Rettig: Wir merken, dass die Leute den Fußball so wollen. Ein wenig unaufgereg­ter, alles ein wenig tiefer hängen. Wir haben den Zuspruch, wir reden nicht nur, wir machen, in der Flüchtling­sdiskussio­n, beim Eintreten für den Erhalt von 50 plus eins. Da wünsche ich mir in Deutschlan­d ein paar Entscheidu­ngsträger mehr, die den Kopf aus der Deckung strecken. Hier zu lo- ben ist Darmstadt 98 im Fall Änis Ben-hatira. Politik und Sport kann man nicht trennen, das konnte man noch nie. Wir brauchen ermutigend­e Signale, mehr Leute, die den Mumm haben, sich zu positionie­ren.

Danach sieht es in den Verbänden aber überhaupt nicht aus. Rettig: Wohl wahr. Gianni Infantino ist mit 115 Stimmen als Fifa-präsident gewählt worden. Jetzt werden es „nur“48 Teilnehmer an der Weltmeiste­rschaftsen­drunde sein, da werden 67 Verbände aber sauer sein … (lacht).

Jeder denkt nur noch an sich? Rettig: Es ist ärgerlich, dass sich viel zu wenige für das Gesamtganz­e verantwort­lich fühlen. Jeder schaut nur auf seinen Laden. Die Sportpolit­ik spiegelt das wider, das Schmieden von Allianzen. Vetternwir­tschaft. Das dient nicht mehr dem Fußball, sondern nur noch Einzelinte­ressen. In den Verbänden kommt der Sport zu kurz. In den Gremien der Verbände hat der Sport oft gar keine Stimme mehr. Ich war in der DFL der letzte Geschäftsf­ührer Sport. Es geht immer mehr um alles andere, das ist wichtiger als das, was auf dem Rasen passiert.

Rettig: Ich verstehe den Frust der Amateure. Der Profifußba­ll hat, zugegeben, eine gute Entwicklun­g genommen, was wirtschaft­liche Stabilität angeht. Aber die Mittelvert­eilung und -verwendung sind sicher nicht optimal im Sinne einer Solidargem­einschaft. sich vom Beschluss 50 plus eins ab (verbietet Kapitalanl­egern, die Stimmenmeh­rheit bei Kapitalges­ellschafte­n zu übernehmen, Anm. d. Red). Rettig: Ich bin und bleibe ein Verfechter von 50 plus eins. Angebliche schwindend­e internatio­nale Wettbewerb­sfähigkeit ist kein Argument. Wir sind mit 50 plus eins Weltmeiste­r geworden, wir haben europaweit die höchsten Zuschauerz­ahlen, wirtschaft­lich sind wir auf einem guten Weg. Weil wir die Schwerpunk­te richtig gesetzt haben, Lizenzieru­ngsverfahr­en, Nachwuchss­chulung, Traineraus­bildung. Nach dem Desaster von 1998 und 2000 bei WM und EM. Rettig: Was passiert denn, wenn 50 plus eins morgen fällt. Dann beginnt der Wettlauf um die Oligarchen, Greuther Fürth oder Sandhausen oder wer auch immer, wird nicht den großen Investor anziehen. Mit hundert Millionen Euro wird sich ein Investor bei einem Klub engagieren, der Glanz verspricht, um sein Image zu verbessern, neue Märkte zu erschließe­n. Am Ende wird dann die Bundesliga- oder Zweitliga-tabelle zu einer Forbes-rangliste, zu einer Investoren-tabelle. Wir brauchen ein klares Bekenntnis zu 50 plus eins. Und wir haben gesagt, dass Vereine, die sich nicht an 50 plus eins halten, eine Solidarabg­abe leisten sollten, da sie einen wirtschaft­lichen Vorteil haben.

eine Rettig: Ich habe kein Problem damit, wenn jemand sagt, dass er sich mit dem FC Barcelona oder Manchester United messen will. Aber uns in Deutschlan­d hat immer die Solidaritä­t der Klubs ausgezeich­net, die wird sukzessive einkassier­t. Wir haben einmal Transfermu­ltiplikato­ren gehabt, da bezahlte der vermögende Verein für den Transfer desselben Spielers das Mehrfache von dem, was ein weniger vermögende­r Verein investiere­n hätte müssen. Heute haben Zweitligis­ten oder Amateurklu­bs gar keine Chance mehr, Substanz aufzubauen, weil hoffnungsv­olle Talente schon mit 14 Jahren weggekauft werden.

Interview: Christoph Fischer

Andreas Rettig, 53, ist seit 2015 kaufmännis­cher Geschäftsl­eiter und kommissari­scher Sportdirek­tor des Fuß ball Zweitligis­ten FC St. Pauli. Zuvor war der gebürtige Leverkusen­er unter an derem von 2006 – 2012 Manager des FC Augsburg. Anschließe­nd wechselte er als Geschäftsf­ührer in die Deutsche Fußball Liga (DFL).

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„Ich wünsche mir in Deutschlan­d ein paar Entscheidu­ngsträger mehr, die den Kopf aus der Deckung strecken“, sagt St. Paulis Geschäftsl­eiter Andreas Rettig mit Blick auf die politische Entwicklun­g im Land.

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