Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Annäherung an die Realität
Nicht nur die EU hat die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei halbherzig wieder aufgenommen. Auch die Regierung in Ankara wusste, als sie im Rahmen des Flüchtlingsabkommens einen Neustart der Beitrittsverhandlungen forderte, dass man keine Chance haben würde, eines Tages zur europäischen Familie zu gehören. Die Bereitschaft der Türkei, sich zu einem demokratischen Rechtsstaat nach westlichem Vorbild umzubauen, war gleich null. Andererseits war zu keinem Zeitpunkt mit der Zustimmung aller 28 Eu-mitgliedstaaten zur Aufnahme der Türkei zu rechnen. Insofern kann die jetzige Absage der Christdemokraten nicht überraschen. Sie wirkt wie eine Neuauflage von Merkels Idee einer privilegierten Partnerschaft: Anbindung an die EU, ohne Vollmitglied zu sein. Beginn der Beitrittsgespräche 2005 vorgeschlagen, eine privilegierte Partnerschaft einer Vollmitgliedschaft vorzuziehen. Doch im Zeichen der Flüchtlingskrise rückten auch die C-parteien im Europaparlament von ihrem Standpunkt ab, um das Abkommen zur Zusammenarbeit gegen illegale Migration nicht zu gefährden. Ankara hatte eine Neuaufnahme der Gespräche damals zur Bedingung für eine Kooperation gemacht.
Doch inzwischen hat ein breites Umdenken eingesetzt. „Die Türkei ist auf dem besten Weg in eine Autokratie“, kommentiert der Csueuropapolitiker Markus Ferber das Papier seiner Fraktion gegenüber unserer Zeitung. „Mit einer Regierung, die mit Verhaftungswellen gegen das eigene Volk vorgeht und Menschenrechte mit Füßen tritt, kann und darf die EU keine Gespräche über einen Beitritt führen. Wir müssen der Türkei jetzt die Rote Karte zeigen und endlich einen klaren Schlussstrich unter die Beitrittsverhandlungen setzen.“
Die Konservativen stehen nicht alleine da. Auch Liberale, Grüne und vor allem die Sozialdemokraten, die lange eine Eu-mitgliedschaft der Türkei befürwortet hatten, sind umgeschwenkt. Die Regierung in Ankara hat alle Sympathien verspielt.
Dabei ist der Beitrittsprozess ohnehin längst ins Stocken geraten und existiert nur noch auf dem Papier. Bisher konnte gerade mal eines der 35 Verhandlungskapitel abgeschlossen werden, weitere 14 sind eröffnet. Solange die Türkei das Zusatzprotokoll zum Abkommen von Ankara nicht umsetzt und das Eu-mitglied Zypern nicht anerkennt, bleiben acht Verhandlungskapitel geschlossen und die Beratungen über laufende Themen dürfen nicht beendet werden. Kurzum: Der Beitrittsprozess findet eigentlich gar nicht mehr statt.
Zwar bemüht sich Brüssel, über den Umweg der Zollunion weiterzukommen, um Staatschef Recep Tayyip Erdogan nicht vollends zu vergraulen und Russland oder China in die Arme zu treiben. Aber auch da müsste der Präsident Zugeständnisse in Sachen Zypern machen.
Bisher hatten die Volksvertreter nur verlangt, die Beitrittsgespräche mit Ankara auf Eis zu legen. Neu ist, dass sie der Türkei nun generell die Eu-perspektive absprechen.