Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
„Ratzinger wusste definitiv vom sexuellen Missbrauch.“
Probst: In der Zusage, dass ich an der Schule aufgenommen werde, hieß es: In jedes Kleidungsstück, in jedes Handtuch, in jeden Waschlappen sind Nummern einzunähen. Ich erhielt die Nummer 439.
Fühlten Sie sich wie im Gefängnis? Probst: Zumindest war ich anfangs lieber dort als zu Hause. Dort war ich unter gleichaltrigen Jungs. Mein Vater und seine neue Frau wollten mich loshaben. Sie wollten ein ruhiges Leben führen, ohne auf mich und meine Schwester aufpassen zu müssen. Das bekam ich zu spüren. Ich bin aber vom Regen in die Traufe geraten: In Etterzhausen wollte man das Kindsein an sich nicht haben.
Haben Sie inzwischen eine Erklärung gefunden, warum ausgerechnet in einer katholischen Einrichtung nicht Nächstenliebe, sondern Gewalt gelebt wurde? Probst: Nein. Und diese Antwort gibt es auch nicht für mich. Ich suche sie nicht mehr. 2010 bin ich aus der Kirche ausgetreten.
Sind Sie auch selbst gewalttätig so wie andere Schüler? Probst: Ich habe die Uhr eines Mitschülers absichtlich fallen lassen, ein
geworden, Dumme-jungen-streich, würde ich heute sagen. Andere wurden tatsächlich gewalttätig in diesem System der Gewalt. Ich habe gerauft, wie Jungen in dem Alter eben raufen, aber ich habe nicht brutal zugeschlagen.
Im Herbst informierten Sie mit dem Regensburger Bischof Rudolf Voderholzer die Öffentlichkeit über den Stand der Aufarbeitung. Demnach haben sich 422 mögliche Opfer gemeldet, zwischen 1953 und 1992 kam es in Vorschule und Internat des berühmten Knabenchors in hunderten Fällen zu körperlicher und sexueller Gewalt. Probst: Bischof Voderholzer setzt sich glaubhaft für uns Opfer ein, das ist mein Eindruck. Er hat das Bedürfnis, die Dinge zu befrieden. Das habe ich auch: Man muss irgendwann Frieden finden.
Frieden finden – auch mit Voderholzers Vorgänger Gerhard Ludwig Müller? Sie wollten mit ihm sprechen. Probst: So ein Gespräch gab es noch nicht, und ich zweifle auch daran, dass es eines geben wird. Uns Opfern wäre wichtig, dass er uns glaubhaft macht, dass er sich mit dem ganzen Ausmaß des Missbrauchsskandals ehrlich befasst.
Müller war von 2002 bis 2012 Regensburger Bischof, heute ist er als Präfekt der Glaubenskongregation im Vatikan oberster Glaubenshüter der katholischen Kirche. Was werfen Sie ihm vor? Probst: Nichtstun. Und: Er hat die Opfer als Beschmutzer seines Bistums dargestellt.
Erst kürzlich sprach Müller von „gezielt verbreiteten postfaktischen Behauptungen“– er habe die Aufklärung weder verzögert noch verhindert. Probst: Ich kann darüber nur noch lachen.
Wann wird der Regensburger Rechtsanwalt Ulrich Weber, der als unabhängiger Sonderermittler tätig ist, seinen Abschlussbericht vorlegen? Probst: Ich rechne damit in den nächsten Wochen. Er dürfte seinen Bericht fast fertig haben, ich bin sehr gespannt. Wahrscheinlich haben sich bei ihm weitere Opfer gemeldet.
Wird sich sein Bericht auch mit Georg Ratzinger befassen? Der Bruder des emeritierten Papstes Benedikt XVI. war als Domkapellmeister von 1964 bis 1994 „Chef“der Domspatzen. Probst: Er wird vorkommen, da bin ich mir sicher. Ratzinger wusste de- finitiv vom körperlichen und sexuellen Missbrauch. Ein Regensburger Historiker wird zudem in einer Studie Ratzingers Rolle genauer untersuchen.
Sie haben Ratzinger zwischen 1968 und 1972 erlebt. Sie waren als Internatsschüler im Palestrina-chor, den er leitete. Sie werfen ihm unter anderem vor, dass er mit einem Klavierstuhl, einem Metronom, mit Tellern und Kerzenständern nach Kindern, auch nach Ihnen, schmiss. Probst: Er hat mich auch verprügelt. Und einmal hat er mir die Haare ausgerissen, derart heftig, dass ich eine Fünf-mark-stück große kahle Stelle auf dem Kopf hatte. Ich hab die Haare aufgesammelt und in einen Geldbeutel gesteckt. Ich hab die Haare jahrelang aufgehoben.
Sie unterstellen ihm im Buch, dass es ihm Spaß machte, Kinder zu schlagen. Probst: Er war cholerisch und hatte eine sadistische Ader.
Georg Ratzinger räumte ein, Ohrfeigen verteilt zu haben. Von sexuellen Missbrauchsfällen habe er „überhaupt nichts gehört“, sagte er vor einem Jahr. Probst: Und er sagte, dass er sich nicht erinnern könne. Dazu fällt mir nichts mehr ein.
Sie waren elf Jahre alt, als Sie sich Ihrem Vater anvertrauten. Nahm er Sie sofort aus dem Internat? Probst: Ja, und zuvor hatte er eine
Alexander J. Probst