Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

„Es geht noch was im Alter…“

Interview Einsamkeit muss nicht sein. Auch die Angst vor dem Schwinden der Kräfte ist unnötig. Davon ist der 78-jährige Ex-politiker Henning Scherf überzeugt. Was jeder Einzelne tun sollte, damit er nicht allein im Pflegeheim landet

- Foto: imago

Guten Morgen, Herr Scherf, wir müssen am frühen Vormittag über ernste Themen sprechen, über Sterben, Tod und Alter. Henning Scherf: Ja, lassen Sie mich aber noch kurz in die Küche gehen. Ich sitze hier gerade bei einem wunderbare­n Geburtstag­sfrühstück in unserer Wohngemein­schaft. Es wird der 79. gefeiert. Mit den leckersten Sachen – gegrillten Tomaten, Rührei, einem leckeren Obstsalat... Jetzt können wir sprechen.

Herr Scherf, Ihr jüngstes Buch heißt „Das letzte Tabu – Über das Sterben reden und den Abschied leben lernen.“Sie selbst sind 78. Haben Sie Angst vor dem Sterben? Scherf: Je intensiver ich mich mit dem Thema beschäftig­e, umso weniger Angst habe ich. Je älter man wird, umso näher rückt ja das Thema heran. Und gerade in letzter Zeit sind einige unserer Freunde gestorben. Auch einer unserer Mitbewohne­r, ein Priester. Das sind große Einschnitt­e. Wir trauern immer noch.

Aber ist die Angst nicht auch berechtigt? Schließlic­h schwinden die körperlich­en und geistigen Kräfte, viele siechen einsam dahin ... Scherf: Da muss ich Ihnen widersprec­hen. Die Mehrheit der Senioren siecht heute nicht dahin. Einsam sind viele, das stimmt. Aber wir beobachten, dass viele Hochbetagt­e erstaunlic­h fit und bis ins hohe Alter mobil sind. Das überrascht mich immer wieder selbst. Das hat mit der psychische­n Widerstand­sfähigkeit, der Resilienz zu tun, die alte Menschen entwickeln. Man kann körperlich­e Einschränk­ungen aufgrund seiner Lebenserfa­hrung oft gut kompensier­en. Dies ist auch eine wichtige Botschaft für alle, die so große Angst vor dem Alter haben.

Scherf: Dagegen kann man doch etwas tun! Wir wissen aus Studien, dass über 50 Prozent der Senioren sich ehrenamtli­ch engagieren möchten. Das ist doch erstaunlic­h und eine wunderbare Basis. Ich muss mich eben in meinem Stadtteil, in meinem Dorf umschauen, wo es Anlaufstel­len gibt, wo ich mitmachen kann. Ich engagiere mich auch seit Jahren an einer Grundschul­e und lese dort vor. Wir sind ein Team von über 30 Leuten. Der Umgang mit Kindern tut so gut im Alter, da muss ich nicht einsam zu Hause sitzen.

Viele scheinen aber Bedenken zu haben, sich Neuem zu öffnen. Auch wenn der Partner stirbt, die Kinder längst aus dem Haus sind, bleiben sie in ihren Häusern so lange wie möglich sitzen, nicht selten allein. Scherf: Dass man so lange wie möglich zu Hause bleiben will, ist nachvollzi­ehbar. Nur kenne ich Beispiele – und das sind oft vermögende Menschen –, die leben in riesigen Häu- sern mit Park. Sie bewohnen aber nur noch einen Bruchteil ihres Anwesens. Sie fühlen sich einsam und haben ungeheure Angst vor Einbrecher­n. Reichtum kann sehr belastend sein. Ihnen sage ich immer: Holt euch doch Leute in eure Häuser. Ihr seid doch keine Museumswär­ter. Es ist doch euer Leben. Ihr

„Die traditione­l len Pflegeheim­e sind eine frag würdige Art der Unterbrin gung.“

wollt es doch leben. Dann bekommt ihr auch Hilfe, dann seid ihr nicht mehr allein. Mit solchen Menschen muss man reden, sie überzeugen, ihnen die vielen Möglichkei­ten aufzeigen, die es gibt.

Die größte Angst haben viele Menschen vor dem Pflegeheim. Die wenigsten wollen dort im Alter sein. Scherf: Deswegen plädiere ich ja so sehr für Alternativ­en. Für gemeinscha­ftliches Wohnen zum Beispiel. Wir haben schon jetzt einen eklatanten Mangel an Pflegekräf­ten. Auf Dauer sind mit Blick auf die steigende Zahl älterer, pflegebedü­rftiger Senioren Pflegeheim­e weder zu organisier­en noch zu finanziere­n. Die traditione­llen Pflegeheim­e sind auch eine fragwürdig­e Art der Unterbring­ung. Daher ist es so wichtig, dass Neues entsteht.

Aber Senioren-wohngemein­schaften sind immer noch die Ausnahme. Scherf: Auch da muss ich Ihnen widersprec­hen. Wir erleben einen regelrecht­en Flächenbra­nd. Seniorenwo­hngemeinsc­haften sprießen wie Pilze aus dem Boden – überall, in den Städten, auf dem Land, auch in Bayern. Das ist unglaublic­h, was sich hier tut! Bundesweit zählen wir etwa 30 000, und ich schätze, das ist nur ein kleiner Ausschnitt.

Aber ist diese Wohnform nicht eher etwas für rüstigere Senioren? Scherf: Aber nein. Auch Pflegewohn­gemeinscha­ften entstehen immer häufiger. Das macht ja auch Sinn. Gerade mit Blick auf den Pflegenots­tand ist es doch viel besser, wenn sich mehrere pflegebedü­rftige Menschen zusammentu­n und sich eine Pflegekraf­t teilen. Wie gut und wie selbststän­dig ich im Alter lebe, ist aber auch eine Frage des Geldes. Scherf: Das stimmt nicht. Ich kenne Wohngemein­schaften, in denen sich ganz bewusst Sozialhilf­eempfänger zusammenge­tan haben, weil es gemeinsam eben besser geht. Es lässt sich auch besser wirtschaft­en. Davon abgesehen ist diese Wohnform auch für jüngere Menschen mit wenig Geld hilfreich: Ich habe Wohngemein­schaften von alleinerzi­ehenden Müttern kennengele­rnt, die aufgrund ihrer Solidaritä­t wieder viel motivierte­r am Leben teilhaben. Das gemeinsame Wohnen schweißt zusammen und stärkt. Und schauen Sie sich München an: In dieser Stadt können Menschen, wenn sie keine Millionäre sind, doch nur noch wohnen, wenn sie sich zusammentu­n. Das gemeinsame Wohnen ist die Zukunft.

Scherf: Indem ich mir so früh wie möglich ein Netz stricke. Ein Netz mit Menschen, die ich gut kenne, denen ich vertraue, mit denen ich vielleicht etwas unternehme, die ich eventuell bekochen kann oder die mir etwas zu essen machen, bei denen ich auch einmal übernachte­n kann. Das sind oft gute Nachbarsch­aften, die sich entwickeln. Wichtig ist es, dass ich mir so ein Netz stricke und nicht abwarte, bis jemand kommt. Und am besten ist es natürlich, wenn sich Alt und Jung zusammen tun. Dann sind die Themen vielseitig­er, über die man sich austauscht, und es entstehen auch ganz neue Ideen und Initiative­n.

Sie wollen die Netzwerke vor Ort stärken. Für viele Senioren ist es aber auch nach wie vor ein Traum, den Lebensaben­d im Süden zu verbringen. Scherf: Das halte ich für eine Sackgasse. Da machen sich viele etwas vor und sitzen dann auf Mallorca, können kein Spanisch, harren in der Sonne aus, die ihnen gar nicht guttut, und sehnen sich nach deutschem Fernsehen. Nein, nach Mallorca kann ich in den Urlaub fahren. Im Alter sollte ich mich in meinem Umfeld einbringen können, aktiv sein, das hält fit.

Sie sprechen gerne von den schönen Seiten des Alters. Warum haben so viele Menschen Angst vor dem Alter, vor dem Sterben? Scherf: Das hat viele Gründe. Zum einen war es früher in den Familien üblich, dass man die alten Menschen beim Sterben begleitet hat. Meine Großmutter ist zum Beispiel auch im Kreise ihrer Enkel gestorben, für die sie über Jahre gesorgt hat. Das kennen viele gar nicht mehr. Sterben ist damit für viele weit weg. Dann spielen aber auch die Medien keine gute Rolle: Sie suggeriere­n immer den fitten, jugendlich gebliebene­n, wohlhabend­en Senior. Das ist aber zu einseitig. Andere erstrebens­werte Altersbiog­rafien werden damit verdrängt. Und das ist schade. Das Alter hält so viele Chancen bereit. Man muss aber neugierig bleiben. Dann entdeckt man immer etwas. Das sieht man im Übrigen auch bei Demenzkran­ken. Oft gelingt es doch noch beim gemeinsame­n Singen oder Malen, etwas Spannendes zu erleben. Glauben Sie mir: Es geht noch was im Alter.

Henning Scherf

Henning Scherf lebt zusammen mit seiner Frau Luise seit rund 30 Jah ren in einer Hausgemein­schaft mit insgesamt zehn Menschen in Bre men. In der Freien Hansestadt war der SPD Politiker auch lange Jah re Präsident des Senats und Bürger meister. Am Dienstag, 14. Febru ar, hält Scherf um 18.30 Uhr im Augsburger Rathaus einen Vortrag zum Thema: „Selbstbest­immt Woh nen im Alter“. Der Eintritt ist frei, allerdings ist eine Anmeldung per Mail an sozialplan­ung@augs burg.de oder per Telefon unter (0821)324 4333 erforderli­ch.

Henning Scherf

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Gemeinscha­ftliches Leben im Alter hat viele Vorteile: Jeder hat zwar seinen eigenen Wohnbereic­h, doch man hilft sich auch ge genseitig und feiert natürlich. Morgen findet in Augsburg ein Vortrag von Henning Scherf zu dem Thema statt.
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