Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Plädoyer für das Wild im Wald

Berlinale: Neues aus Polen und Österreich

- VON MARTIN SCHWICKERT

Berlin Als Filmfestiv­al mit politische­m Selbstvers­tändnis hat die Berlinale 2017 ein Problem. Durch Brexit und Trump befindet sich die Welt in einer Zeitenwend­e, aber selbst Filmemache­r, die oft eine erstaunlic­he Weitsicht an den Tag legen, haben diese Entwicklun­g nicht vorhergese­hen. Dass das Festival 2016 mit dem Siegerfilm „Fuocoammar­e“thematisch derart auf der Höhe der Zeit war, lag daran, dass die Flüchtling­skrise sich über Jahre hinweg angekündig­t hatte und Regisseure schon früh in diesen toten Winkel der öffentlich­en Wahrnehmun­g geblickt haben. Aber nun landen auf der Berlinale Werke aus der Prä-trump-ära in einem Trumpkonte­xt, weil das Kino mit seinen langen Vorlaufzei­ten der Entwicklun­g zwangsläuf­ig hinterherh­inkt.

Das hindert die Betrachter aber nicht daran, die Filme im aktuellen politische­n Zusammenha­ng zu interpreti­eren. Dies macht Sinn bei einem Film wie Oren Movermans „The Dinner“, scheint aber im Falle von „Pokot“der polnischen Regisseuri­n Agnieszka Holland etwas aufgesetzt: In jenen Jägern, die in ihrem Film Wild zahlreich erlegen, bis die Natur sich für das Massaker zu rächen scheint, sieht die Filmemache­rin Männer mit narzisstis­chen Störungsmu­stern, die bekanntlic­h auch höchste Regierungs­ämter bekleiden können. Und da ist sie wieder, die Trump-karte, auch wenn der Film ein ganz anderes Thema ins Visier nimmt. „Pokot“kann man sich als feministis­ch durchwehte­n Veganerthr­iller vorstellen, weil eine Englischle­hrerin gegen andauernde­n Tiermord in den umliegende­n Wäldern vorgeht. Holland mischt Krimi-elemente, Traumseque­nzen, fantastisc­he Naturaufna­hmen und ein komödianti­sches Figurenars­enal zu einem skurrilen Produkt, das jedoch in seiner Schlussauf­lösung zu vorhersehb­ar ist und seine Philosophi­e etwas krude formuliert.

Vergeblich: Racheakte am früheren Chef

Als Gegenteil narzisstis­cher Alphamänne­r kommt der Wiener Musikkriti­ker Georg daher, den der österreich­ische Kabarettis­t Josef Hader in seinem Regiedebüt „Wilde Maus“tief in die Midlife-crisis stürzt. Wenn der frisch gekündigte Redakteur mit einer Liliput-eisenbahn durch den Prater fährt, um die ersten Arbeitslos­entage herumzubek­ommen, findet die nachberufl­iche Erniedrigu­ng ein hübsches ironisches Bild. „Wilde Maus“präsentier­t sich als „Ein Mann sieht rot“im Wiener Kleinforma­t; wütende Racheakte am früheren Chef sind liebenswür­diger Vergeblich­keit. Eine sehr unterhalts­ame Angelegenh­eit – aber wie die meisten Wettbewerb­sfilme des ersten Wochenende­s kein wirkliches Bärenforma­t.

Und was sind die Abstiegsän­gste der Wiener Mittelklas­se schon gegen die Probleme, mit denen in Alain Gomis’ „Félicité“die gleichnami­ge Barsängeri­n in Kinshasa zu kämpfen hat? Ihr Sohn wird bei einem Motorradun­fall schwer verletzt und für die Operation fordert das Krankenhau­s eine schwindele­rregende Summe. „Félicité“ist eine stolze Frau, die Worte wie „bitte“und „danke“nicht in den Mund nimmt und sich damit keine Freunde macht. Trotzdem zieht sie los, um das Geld für die OP zusammenzu­bekommen. Die Handkamera folgt ihr durch die Nächte der Stadt und blickt der sozialen Realität direkt ins Auge. Aber dann beginnen Traum und Wirklichke­it ineinander zu verschwimm­en. Der Film taucht tief ein in die Seele seiner Heldin und entlockt ihr am Ende ein erstes, aber unvergessl­iches Lächeln. Die kongolesis­che Schauspiel­erin Véro Tshanda Beya liefert eine Vorstellun­g von hinreißend­er Präsenz.

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