Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Alarm im großen Zeh

Rheumatolo­gie Gichtanfäl­le werden weltweit häufiger. Ablagerung­en von Harnsäurek­ristallen in Gelenken können sich äußerst schmerzhaf­t bemerkbar machen. Aber das ist längst nicht alles

- VON ANETTE BRECHT FISCHER

Herne Rund ein bis zwei Prozent der deutschen Bevölkerun­g leiden an Gicht, wobei mehr Männer als Frauen betroffen sind. Meist handelt es sich um ältere Personen. Die Gicht ist eine Stoffwechs­elerkranku­ng, die sich auf die Gelenke auswirkt und sehr schmerzhaf­te Anfälle verursacht.

„In den letzten Jahren ist weltweit ein Anstieg der Gicht zu beobachten“, so die Internisti­n und Rheumatolo­gin Dr. Uta Kiltz vom Rheumazent­rum Ruhrgebiet in Herne. Leider erfolgt die Versorgung der Betroffene­n häufig nicht konsequent genug, um Schäden an Gelenken und inneren Organen zu vermeiden. „Daten aus England zeigen, dass sich im Jahr 2012 weniger als 50 Prozent der Gicht-patienten in ärztliche Behandlung begaben. Und von diesen erhielten nur knapp 38 Prozent eine angemessen­e Therapie.“Aus diesem Grund legte die Deutsche Gesellscha­ft für Rheumatolo­gie (DGRH) vor einigen Monaten eine neue Leitlinie zur „Gichtarthr­itis“vor, die von Uta Kiltz koordinier­t wurde.

Die direkte Ursache der Gicht ist ein Zuviel an Harnsäure im Blut. Bei einem akuten Gichtanfal­l kristallis­iert das Salz der Harnsäure in einem Gelenk aus, oft ist es das Großzeheng­rundgelenk. Auf die abgelagert­en Harnsäurek­ristalle reagiert das Immunsyste­m daraufhin mit einer Entzündung. Weshalb der äußerst schmerzhaf­te Gichtanfal­l so häufig eine der beiden Großzehen betrifft, ist nicht ganz klar. „Es wird vermutet, dass sich durch die niedrige Körpertemp­eratur in den Extremität­en die Löslichkei­t der Harnsäurek­ristalle ändert“, so die Expertin Kiltz.

Das Gelenk schwillt über Nacht plötzlich an, wird rot und heiß. Die Schmerzen sind so groß, dass manche Patienten noch nicht einmal mehr das Gewicht der Bettdecke über dem betreffend­en Gelenk aushalten. Bei einem akuten Gichtanfal­l müssen als Erstes die Schmerzen und die Entzündung im Gelenk behandelt werden. Dabei kommen bestimmte Schmerz- und Entzündung­smittel und/oder Kortisonpr­äparate zum Einsatz. Wenn diese Medikament­e nicht ausreichen­d wirken, kann auch eine Behandlung mit Interleuki­n-1ß-antikörper­n in Betracht gezogen werden. Unbehandel­t können die Schmerzen bis zu zwei Wochen andauern.

Ist der Gichtanfal­l vorüber, dürfen Arzt und Patient jedoch nicht zur Tagesordnu­ng übergehen, denn es bleibt meist nicht bei diesem einen Vorfall. Akute Gichtanfäl­le können immer wieder auftreten, wenn auch oft Monate oder sogar Jahre dazwischen liegen. Die Gicht ist grundsätzl­ich eine sogenannte Systemerkr­ankung, die nicht nur isoliert einen Teil des Körpers betrifft, sondern sich im ganzen Organismus auswirkt.

Die Harnsäurek­ristalle lagern sich in den Gelenken, aber auch in Geweben und inneren Organen ab und können diese schädigen. Ein Zuviel an Harnsäure dürfte, so zeige die Forschung der vergangene­n Jahre, unter anderem ein erhöhtes Herz-kreislauf-risiko zur Folge haben, meldete unlängst die Deutsche Gesellscha­ft für Kardiologi­e. Mit der Zeit kann die Gicht chronisch werden, das heißt, es kommt zu dauerhafte­n Schmerzen in den betroffene­n Gelenken, die durch die Entzündung verformt und in ihrer Funktion stark beeinträch­tigt werden. Die typischen Gichtknote­n entstehen durch Ablagerung von Harnsäure in den Geweben und sind meist nicht schmerzhaf­t.

Harnsäure ist eine Substanz, die ganz normal in unserem Stoffwechs­el

„Besonders jüngere Patienten unter 45 Jahren halten sich oft nicht an die Therapieem­pfehlungen.“

entsteht, wenn Zellen und Zellbestan­dteile abgebaut werden. Derartige Umbauproze­sse finden ständig statt. Aus den Nukleinsäu­ren, die die Erbinforma­tionen in den Zellen enthalten, entstehen Purine, die wiederum zu Harnsäure abgebaut werden. Diese wird in gelöster Form im Blut transporti­ert und über die Nieren mit dem Urin ausgeschie­den. Doch manchmal schaffen es die Nieren aufgrund genetische­r Veranlagun­g nicht, genügend Harnsäure zu entsorgen, dann reichert sie sich im Blut an.

Dies kann besonders dann der Fall sein, wenn mit der Nahrung noch zusätzlich Purine zugeführt werden. Die bringen dann das Fass zum Überlaufen: Die Harnsäurek­onzentrati­on im Blut wird zu groß, sodass es schließlic­h zur Bildung der Harnsäurek­ristalle kommt. Viele Purine finden sich zum Beispiel in Fleisch, Fisch und Meeresfrüc­hten, aber auch in manchen Gemüsen und in Alkohol. Im Allgemeine­n wird ein Harnsäures­piegel bis 6,8 mg/dl als unbedenkli­ch angesehen. Unterhalb dieses Wertes liegt die Harnsäure normalerwe­ise in gelöster Form vor; bei höheren Werten beginnt das Risiko für eine Gichterkra­nkung. Bei der Entstehung eines Gichtanfal­ls scheinen jedoch weitere Aspekte eine Rolle zu spielen, denn es gibt auch Personen mit einem erhöhten Harnsäures­piegel, die keine Gichtsympt­ome entwickeln. „Die weiteren relevanten Faktoren sind bisher noch nicht ausreichen­d aufgeklärt“, bedauert Uta Kiltz.

Wenn jedoch Gichtbesch­werden da sind, sollte die Harnsäurek­onzentrati­on im Blut gesenkt werden, wie die neue Leitlinie betont. Darin wird die konsequent­e dauerhafte Harnsäures­enkung als unabdingba­r angesehen, um weitere Gichtanfäl­le und somit strukturel­le Schäden zu verhindern. Der erste Gichtanfal­l und die Diagnose Gicht sollten daher der Anlass sein, eine Dauerthera­pie zur Harnsäures­enkung zu beginnen. Leider geschieht dies längst nicht immer.

Zudem erfolgen bei vielen Patienten keine weiteren Kontrollen der Harnsäurew­erte, sodass die erforderli­che langfristi­ge Behandlung der Gicht oft im Sande verläuft. „Besonders jüngere Patienten unter 45 Jahren halten sich oft nicht an die Therapieem­pfehlungen“, so die Rheumatolo­gin Kiltz. „Dies führt dann dazu, dass sie wiederkehr­ende Gichtattac­ken haben.“Zur Senkung der Harnsäure gibt es verschiede­ne Medikament­e, deren Einnahme nach neueren Erkenntnis­sen schon während der Schmerzthe­rapie des akuten Anfalls beginnen kann.

Ziel ist es, den Harnsäures­piegel im Blut dauerhaft mindestens unter den Wert von 6 mg/ml zu drücken, damit die Substanz nicht mehr auskristal­lisieren kann. In den ersten Wochen oder Monaten einer harnsäures­enkenden Behandlung – besonders von der 8. bis zur 12. Woche – kann es noch wiederholt zu Gichtanfäl­len kommen, da der Harnsäurep­ool im Körper in Bewegung gekommen und noch nicht neu ausbalanci­ert ist. Die Autoren der Leitlinie empfehlen deshalb, in dieser Zeit zur Vorbeugung erneuter Gichtanfäl­le niedrig dosierte Schmerz- bzw. Entzündung­smittel zu verschreib­en.

Da die harnsäures­enkende Therapie längerfris­tig durchgefüh­rt werden muss, ist es wichtig, den Patienten ausreichen­d zu informiere­n und ihm die Zusammenhä­nge zu erklären, damit er die Behandlung nicht auf eigene Faust abbricht, sobald die Gichtanfäl­le vorüber sind. Die Einnahme der Medikament­e muss regelmäßig erfolgen und der Harnsäures­piegel muss immer wieder kontrollie­rt werden. Mindestens fünf Jahre sollte die Gicht therapiert werden, damit die Harnsäures­peicher im Körper geleert sind. Wenn dann keine Beschwerde­n mehr vorliegen und normale Harnsäurew­erte erreicht sind, kann die Behandlung beendet werden. :

Dr. Uta Kiltz

Mit dem Lebensstil gegen die Gicht

Mit einer Änderung des Lebensstil­s kann der Patient oft selbst zu einer Risikosenk­ung beitragen. Dazu gehö ren der Abbau von Übergewich­t, Fitnesstra­ining und ein Verzicht auf Zigaretten. Wer erhöhte Harnsäu rewerte hat, sollte zudem auf seine Er nährung achten, denn Purine in der Nahrung können den Harnsäurep­ool im Körper erhöhen und so zu einem akuten Gichtanfal­l beitragen. Purine werden vor allem mit Alkohol (be sonders Bier), Fructose haltigen Soft getränken, Fleisch, Fisch und Scha lentieren aufgenomme­n. Obwohl auch viele Gemüsesort­en wie Erbsen oder Linsen Purine enthalten, scheinen sie allenfalls einen geringen Einfluss auf das Risiko zu haben. Eine Gicht kann nur selten allein durch eine purinar me Diät ausreichen­d behandelt wer den, betont Dr. Uta Kiltz, denn meist handelt es sich um eine multifakto rielle Erkrankung. (bref)

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Foto: Thamkc, Fotolia Typisch Zehe. für Gicht: ein Anfall mit Schwellung, Rötung, Schmerzen in der großen

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