Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Stockholme­r Zeitkapsel

Zu Besuch in der Wohnung von Astrid Lindgren

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VON CHRISTOPH DRIESSEN

Das aufschluss­reichste Detail in der Wohnung von Astrid Lindgren in Stockholm ist ein Stück abgewetzte­r Teppich. Genau vor ihrem Bett ist der braune Belag an einer Stelle komplett ausgetrete­n – da, wo sie morgens immer ihre Füße hinsetzte. Drei Dinge lassen sich daraus ableiten: Astrid Lindgren lebte sehr lange hier. Sie war ein Gewohnheit­smensch. Und sie war sehr bescheiden – sonst hätte sie den Teppich wohl irgendwann erneuert. Seit einiger Zeit kann man das Heim der berühmten Kinderbuch­autorin besichtige­n. Man muss etwas suchen, bis man den Eingang gefunden hat. An der fast etwas schäbigen Wohnungstü­r ein unscheinba­res Schild: „A Lindgren“. Kurzes Klingeln, die Tür wird geöffnet. „Guten Morgen, gut gefunden?“Man tritt ein, hängt den Mantel auf. Auf dem Weg durch den Flur knarren die Dielenbret­ter. Im Esszimmer steht eine Tasse Tee auf dem Tisch. Apfelsinen und ein halb gefülltes Marmeladen­glas deuten darauf hin, dass die Küche hin und wieder noch benutzt wird. Zugleich wirkt vieles wie aus einer anderen Zeit: Die Gläschen im Gewürzrega­l gibt es heute so nicht mehr zu kaufen. In den übrigen Räumen ist dieses Gefühl noch wesentlich stärker: Man wähnt sich 30, 40, 50 Jahre zurückvers­etzt. Gleichzeit­ig machen die Zimmer einen belebten Eindruck, weil hier hin und wieder noch die Tochter und die Enkel von Astrid Lindgren zusammenko­mmen. Die Wohnung hat dadurch überhaupt nichts Museales. Man hat den Eindruck, Astrid Lindgren wäre nur mal eben raus, Milch holen. „Als Astrid 2002 starb, war sich die Familie darüber im Klaren, dass viele Leute gerne sehen würden, wo und wie sie gelebt hat“, erzählt Cilla Nergårdh, Sprecherin der Lindgren-erben. Das Problem war, dass Lindgrens Tochter Karin Nyman – heute ist sie über 80 – den Ort ihrer Kindheit und Jugend nicht in fremde Hände geben wollte. Schließlic­h hat die Familie gesagt: „Lasst uns einfach ganz klein anfangen mit Gruppen von maximal zwölf Personen.“Über eine Website kann man sich anmelden. Und dann eintreten in eine Zeitkapsel. Die Vierzimmer­wohnung im ersten Stock des Altbaus Dalagatan 46 liegt im Stockholme­r Vasavierte­l, Lindgren-kennern vertraut aus „Karlsson vom Dach“. Astrid Lindgren bezog die Wohnung 1941, gemeinsam mit ihrem Mann Sture, ihrem 15 Jahre alten Sohn Lars und ihrer damals sieben Jahre alten Tochter Karin. Es gefiel ihr so gut, dass sie ein richtig schlechtes Gewissen hatte, ein so schönes Zuhause zu haben, während in Europa der Zweite Weltkrieg wütete. Mehr als 60 Jahre lebte sie hier, bis zu ihrem Tod 2002 im Alter von 94 Jahren. Hier sind Pippi & Co. entstanden Die Wohnung ist der Entstehung­sort all ihrer Bücher. Sie schrieb sie im Bett – ausschließ­lich morgens nach dem Wachwerden. Gegen Mittag fuhr sie in den Verlag, in dem sie als Kinderbuch­lektorin arbeitete, auch noch, als sie schon weltberühm­t war. Die mechanisch­e Schreibmas­chine im Arbeitszim­mer nutzte sie nur, um ihre in Stenoschri­ft verfassten Manuskript­e abzutippen. Ein anderes Bett ist ebenfalls legendär: Es steht im Gästezimme­r und gehörte einst ihrer Tochter Karin. 1941 musste sie darin eine Lungenentz­ündung auskuriere­n, und weil sie sich langweilte, sagte sie zu ihrer Mutter: „Erzähl mir was von Pippi Langstrump­f!“Damit ging es los. Als Astrid Lindgren 1944 auf einem der vereisten Wege im Vasapark ausrutscht­e, sich den Fuß verstaucht­e und selbst das Bett hüten musste, begann sie, die Geschichte­n aufzuschre­iben. Den Vasapark, das kleine Stück Natur direkt vor ihrer Haustür, liebte sie, und wenn man ihn besucht, weiß man, warum. Im Winter laufen Kinder Schlittsch­uh, die großen alten Bäume sind schneebede­ckt, und dahinter ragen die stattliche­n Altbauten des Vasavierte­ls auf. Irgendwo dort zwischen den Schornstei­nen muss Karlsson wohnen. Die Wege im Park sind immer noch vereist. Wenn man nicht aufpasst, rutscht man aus, genau wie Astrid Lindgren. Millionen Menschen sind mit den ländlichen Paradiesen Bullerbü, Lönneberga und Birkenlund aufgewachs­en – Orten, an denen Kinder noch Kinder sein durften. Sie verbinden den Namen Lindgren vor allem mit ländlicher Idylle. Doch die Autorin selbst hat ihr Erwachsene­nleben in der Großstadt verbracht. Mit 18 Jahren verließ sie ihren kleinen Heimatort Vimmerby, weil sie unverheira­tet ein Kind erwartete, ging nach Stockholm und zog dort nie wieder weg. In ihrer Wohnung erinnern einige Bilder über ihrem Bett an die Bullerbü-kindheit. In den stillen Räumen gibt es viele kleine Entdeckung­en zu machen. Die Wände hängen voller Bilder, viele davon Original-zeichnunge­n aus ihren Büchern. Herumliege­nde Lupen und ein Telefon mit riesigen Tasten verraten, dass die Autorin im Alter schlecht sehen konnte. Der Mittelpunk­t der Wohnung ist das Wohnzimmer. Dort stehen ihre Bücher in vielen Sprachen im Schrank, darunter eine Erstausgab­e von „Pippi Langstrump­f“. Vor allem aber gibt es viele Sofas, alle ganz unterschie­dlich, wie improvisie­rt. Journalist­en haben mehrfach berichtet, wie Astrid Lindgren darauf bestand, dass sie sich direkt neben sie setzten. Dann ergriff sie die Hand des Besuchers oder knuddelte ihm sogar die Wange. Diese Erfahrung lässt sich natürlich nur noch nachlesen. Astrid Lindgren ist nicht mehr da. Und diesen Verlust, diese Leere spürt man deutlich. Die Wohnung gibt einen Eindruck davon, wie Astrid Lindgren gelebt hat. Aber finden kann man sie nur noch in ihren Büchern.

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Foto: dpa/tmn Der Vasapark vor Astrid Lindgrens Haus (links), in dem sie oft spaziereng­ing. 1944 verstaucht­e sie sich hier in einem Schneestur­m den Fuß. Daraufhin begann sie im Bett „Pippi Langstrump­f“zu schreiben.
 ?? Foto: Saltkråkan ?? Mehr als 60 Jahre lebte Astrid Lindgren in ihrer Stockholme­r Wohnung – dort schrieb sie ihre Bücher.
Foto: Saltkråkan Mehr als 60 Jahre lebte Astrid Lindgren in ihrer Stockholme­r Wohnung – dort schrieb sie ihre Bücher.
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Foto: Imago Die Bücher über Pippi Langstrump­f von Astrid Lindgren wurden alle ver filmt.

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