Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Empört euch!

Künstlerka­rrieren (12) Die Band Rainer von Vielen verbindet Pop mit Gesellscha­ftskritik. Das gefällt

- VON MICHAEL DUMLER Foto: Dita Vollmond

Kempten Dieser Song ist der Soundtrack zur Lage der Nation, nein, der Welt: „Wieder spielt alles verrückt, es ist überall Chaos, die Zeitung ist entzückt, überall Chaos, Gemüter sind erhitzt, überall Chaos“. So heißt es im Refrain von „Divan“, der aktuellen Single der Allgäuer Band Rainer von Vielen. Donald Trump, Brexit, Flüchtling­sdiskussio­n, AFD, Rechtspopu­lismus, Dschungelc­amp – zum Davonflieg­en ist es. Vielleicht haben sich die Musiker für ihr dazugehöre­ndes Video deshalb auch in knallig-weiße Raumanzüge gezwängt. Doch abheben kommt für Rainer von Vielen nicht infrage, auch wenn die Band vor Zehntausen­den spielt wie bei Demos gegen TTIP und Ceta oder für Attac. Die vier Allgäuer, alle Jahrgang 1977, kennen sich seit der Schulzeit in Kempten und sind heute glückliche Familienvä­ter.

Ihre Wochenende­n verbringen sie aber meist fern von Frauen und Kindern auf den Autobahnen und in den Klubs der Republik. „Familie und Beruf sind nicht immer leicht unter einen Hut zu bringen“, räumt Sänger, Texter, Akkordeons­pieler und Sound-tüftler Rainer von Vielen alias Rainer Hartmann ein. Und Gitarrist Mitsch Oko, der eigentlich Michael Schönmetze­r heißt, ergänzt: „Wir arbeiten halt dann, wenn andere frei haben.“Gut 60 000 Kilometer spulen die Musiker im Jahr mit ihrem Tourbus herunter. Letztes Wochenende gaben sie drei Konzerte in Hamburg, Flensburg und Kiel. Kommenden Samstag stellen sie ihr neues Album „Überall Chaos“im Künstlerha­us in Kempten, am 25. Februar in der Kantine in Augsburg vor.

Während Hartmann und Schönmetze­r in Dörfern bei Kempten leben, haben Schlagzeug­er Sebastian Schwab und Bassist Dan le Tard (Daniel Schubert) ihren Lebensmitt­elpunkt in Stuttgart. Je nachdem, wohin die Wochenendt­ournee geht, in den Westen, Norden oder Osten, werden die beiden von Hartmann und Schönmetze­r an der passenden Autobahnra­ststätte aufgegabel­t. „Das funktionie­rt ganz gut“, sagt Rainer Hartmann, der berühmt ist für seinen schaurig-schönen Kehlkopfun­d Obertonges­ang und auch sirenenhaf­t im Falsett singen kann.

„Überall Chaos“ist das sechste Studioalbu­m, mit dem Rainer von Vielen durch die Lande zieht. „Bastard-pop“nennen die Allgäuer ihren Musikstil. „Pearl Jam, Beastie Boys, Kurt Cobain – in unserer Jugendzeit gab es die Grunge-welle, Rock traf auf Rock, das hat uns geprägt“, sagt Schönmetze­r. Wer sich das neue Album, das es erstmals auch als Vinylausga­be gibt, anhört, entdeckt viele musikalisc­he Spielarten: Rock, Rap, Elektronik, Funk, Metal, Weltmusik. Dazu kommen der ungewöhnli­che Gesang sowie intelligen­te, poetische und immer auch kritische Texte. „Der Rechtsruck ist extrem bedenklich geworden“, sagt Hartmann, der sich als gesellscha­ftspolitis­cher Musiker sieht. Ihn nerven Ausbeutung, Profitgier, der Hunger der Medien nach dem Extremen. Sein Gegenrezep­t: „Als Band können wir Leute auf positive Weise zusammenbr­ingen. Das nimmt die Angst.“

2003 trat die Band Rainer von Vielen erstmals auf. Schnell stellte sich der Erfolg ein; seit elf Jahren können alle Mitglieder von der Musik leben. 2005 gewann die Gruppe den Protestson­g-contest des österreich­ischen Radiosende­rs FM4. Von da an ging es vom Allgäu hinaus in die Welt. 2012 führte eine Tournee sogar nach Sibirien. Viel beachtet wurde das Video zum Sido-cover „Mein Block“auf Youtube. Grünen-politikeri­n Claudia Roth ist seit langem ein erklärter Fan der Allgäuer. Wie auch Schriftste­llerin Sibylle Berg, die im Video „Wir kümmern uns“(nach „We Care a Lot“der Us-amerikanis­chen Crossoverb­and Faith No More) einen Auftritt hat. 2014 löste Sebastian Schwab (er ist auch Schauspiel­er und Regisseur) Niko Lai an den Drums ab. Seitdem ist der Sound rockiger geworden. Mit „Der größte Tag“ist den Allgäuern sogar ein fetziger Stadionkra­cher gelungen.

Auch in der Theater-szene macht Rainer von Vielen von sich reden. Am Staatsthea­ter Hannover inszeniert­en die Allgäuer mit Regisseur Florian Fiedler „Mythen der Freiheit“(2013) und lieferten 2015 für dessen Inszenieru­ng von Dürrenmatt­s „Der Besuch der alten Dame“am Theater Basel die Live-musik.

Zum Erfolgsrez­ept der Band gehört, dass sie sich selbst vermarktet. „Die Macht der Entscheidu­ng liegt immer bei uns“, sagt Schönmetze­r, der die Gruppe managt. Wenn er zu Hause via Internet mit einem Veranstalt­er verhandelt, schaut ihm manchmal die acht Monate alte Tochter Theresa interessie­rt von der Krabbeldec­ke aus zu.

Das Allgäu ist für Schönmetze­r eine „Kraftquell­e“. Seinen Akku lädt er bei Mountainbi­ke-touren auf, die vor der eigenen Haustür in Krugzell beginnen. Auch Rainer Hartmann, der mit seiner Frau und seinen drei Kindern auf einem Bauernhof bei Sulzberg lebt, genießt das Leben auf dem Land. „Unser Netzwerk funktionie­rt hier sehr gut“, sagt er. Ob das Equipment Probleme macht oder der Tourbus, ein Ansprechpa­rtner ist immer schnell gefunden. Man kennt sich. Gerade aus dem wöchentlic­hen Kontrast zwischen Allgäu und Großstadt zieht der Sänger Kraft.

Bodenhaftu­ng beweist die Band immer wieder. „Empört euch! Denn diese Welt, sie gehört euch“, singt Rainer Hartmann. Das Video zur Single „Empört euch!“drehte er mit seinen Kollegen inmitten der Kemptener Fußgängerz­one, was für Verwirrung bei Passanten sorgte. Und bei ihren Weihnachts­konzerten, die alle zwei Jahre in Kempten 1000 Fans anlocken, wagen die Musiker Brückensch­läge. Da interpreti­ert die Musikkapel­le Krugzell zünftig Rainer-von-vielen-hits (2014) oder der U50-chor aus Altusried stimmt mit der Band deren Songs an (2016). Und Spaß haben alle, Mitwirkend­e wie Publikum. So soll’s sein bei Rainer von Vielen. Der passende Song dazu: „Tanz deine Revolution!“

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Machen Pop mit Köpfchen: (von links) Rainer von Vielen, Mitsch Oko, Sebastian Schwab und Dan le Tard.
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