Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Terror Opfer heiratet Retter
Schicksal Roseann Sdoia wurde beim Anschlag auf den Boston-marathon schwer verletzt. Dass sie nicht starb, verdankt sie einem Feuerwehrmann. Er ist die Liebe ihres Lebens
Washington Als sie ihren künftigen Ehemann zum ersten Mal sah, lag Roseann Sdoia mit zerfetztem rechten Unterschenkel in ihrem Blut. Die heute 48-jährige Hobby-joggerin hatte im April 2013 mit einer Bekannten den Zieleinlauf des Bostonmarathons besucht. „Nächstes Jahr laufen wir auch mit“, sagte Sdoia noch zu ihrer Freundin. Dann hörte sie einen Knall.
Böllerschüsse beim Marathon seien ja etwas ganz Neues, dachte sie in diesem Moment. Jemand rief, sie solle in Deckung gehen, also lief sie los – genau in die zweite Bombe hinein.
Die aus Tschetschenien stammenden Brüder Tamerlan und Dzhokhar Tsarnaev hatten am Ziel des Marathons im Abstand von wenigen Sekunden zwei Sprengsätze gezündet, die drei Menschen töteten. Sdoia gehörte zu den mehr als 260 Verletzten des Anschlags.
Als sie auf dem Pflaster lag und Opfer, Helfer und Polizisten allesamt
Sie hatte keine Hoffnung mehr. Doch dann kam Mike
an ihr vorbeilaufen sah, glaubte sie zu sterben, wie sie später der Sport-zeitschrift berichten sollte. Sie befürchtete, dass niemand ihr helfen würde. Doch dann kam Mike Materia, 33, ein Ex-soldat mit drei Einsätzen im Irak, der nach seinem Armeedienst zur Feuerwehr in Boston gewechselt war. Nach den Explosionen an der Ziellinie rückten Rettungssanitäter, Notärzte und Feuerwehrleute aus ganz Boston am Tatort an, um die Opfer zu versorgen.
Materia legte Roseann Sdoia auf die Rückbank eines Polizei-transporters, denn die Krankenwagen waren alle belegt. Er kniete sich während der Fahrt in die Klinik vor sie, damit sie nicht von der Bank fallen konnte. Sie fragte ihn, ob sie jetzt sterben müsse. „Nein, du stirbst nicht“, lautete die Antwort. Materia hielt ihre Hand. Er fragte sie nach ihrem Namen, um sie wach zu halten.
„Er hat mich am schlimmsten Tag meines Lebens gesehen“, sagt Sdoia heute. Am Tag nach dem Anschlag schaute Materia im Krankenhaus vorbei, wo die Ärzte Sdoias rechtes Bein von einer Stelle oberhalb des Knies an amputiert hatten. Als der Feuerwehrmann vom Klinikpersonal hörte, dass Sdoia trotz ihrer Verletzung überlebt hatte, war er überglücklich: „Die beste Nach- richt, die ich jemals habe“, nannte er es.
Sdoias Mutter sah schon in dieser ersten Zeit nach der Katastrophe etwas, was ihre Tochter nicht sehen konnte oder wollte. Der Feuerwehrmann sei ja schon sehr süß, sagte ihre Mutter im Krankenhaus. „Und ich gab zurück: ,Mensch Mama, ich bin gerade in die Luft gejagt worden’“, erinnert sich Sdoia. Aber Sdoias Mutter sollte recht behalten. Materia setzte seine Besuche bekommen am Krankenbett fort und begleitete die Schwerverletzte durch mehrere Anschlussoperationen. Unter anderem wurde ihr ein Bombensplitter aus dem Bauchraum entfernt. Er war immer bei ihr in dieser oft schweren Zeit der Umgewöhnung an ihr neues Leben ohne rechtes Bein. Nachdem Sdoia entlassen worden war, trafen sich die beiden regelmäßig mit einem Studenten und einer Polizistin, die Sdoia an jenem schwarzen Tag ebenfalls geholfen hatten.
Doch für das Anschlagsopfer und ihren Feuerwehrmann ging es bald um mehr als nur um Freundschaft und die gemeinsame Erinnerung an ein schreckliches Ereignis. Im Juni 2013, zwei Monate nach dem Anschlag, hatten sie ihre erste Verabredung, bei der es nicht nur um Prothesen und das Treppensteigen ohne Unterschenkel ging.
Sdoia sagt heute, sie habe an Materias „unglaublichem Lächeln“gesehen, wie viel sie ihm bedeute. Ein paar Wochen vor dem Jahreswechsel machte Materia seiner Freundin
Mit der Prothese lief sie aufs Empire State Building
schließlich einen Heiratsantrag. Schon dieses Jahr im Herbst wollen die beiden vor den Standesbeamten treten. Erst vor rund einer Woche nahmen sie beide zusammen am traditionellen Treppenlauf im New Yorker Empire State Building teil – sie mit Prothese, er in voller Feuerwehrmann-montur. Nach 1576 Stufen und 86 Stockwerken waren sie am Ziel.
Mit dem Studenten und der Polizistin von damals haben sie ein Buch geschrieben, das in den kommenden Wochen erscheinen soll. Darin erzählen sie ihre unglaubliche Geschichte.
Manche Dinge, sagte Roseann Sdoia kürzlich, würden eben aus einem guten Grund geschehen. Der Tag des Anschlags sei für sie zwar ein Tag des Terrors, aber auch der Tag, an dem sie ihr Glück gefunden habe.