Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Terror Opfer heiratet Retter

Schicksal Roseann Sdoia wurde beim Anschlag auf den Boston-marathon schwer verletzt. Dass sie nicht starb, verdankt sie einem Feuerwehrm­ann. Er ist die Liebe ihres Lebens

- VON THOMAS SEIBERT Foto: Imago

Washington Als sie ihren künftigen Ehemann zum ersten Mal sah, lag Roseann Sdoia mit zerfetztem rechten Unterschen­kel in ihrem Blut. Die heute 48-jährige Hobby-joggerin hatte im April 2013 mit einer Bekannten den Zieleinlau­f des Bostonmara­thons besucht. „Nächstes Jahr laufen wir auch mit“, sagte Sdoia noch zu ihrer Freundin. Dann hörte sie einen Knall.

Böllerschü­sse beim Marathon seien ja etwas ganz Neues, dachte sie in diesem Moment. Jemand rief, sie solle in Deckung gehen, also lief sie los – genau in die zweite Bombe hinein.

Die aus Tschetsche­nien stammenden Brüder Tamerlan und Dzhokhar Tsarnaev hatten am Ziel des Marathons im Abstand von wenigen Sekunden zwei Sprengsätz­e gezündet, die drei Menschen töteten. Sdoia gehörte zu den mehr als 260 Verletzten des Anschlags.

Als sie auf dem Pflaster lag und Opfer, Helfer und Polizisten allesamt

Sie hatte keine Hoffnung mehr. Doch dann kam Mike

an ihr vorbeilauf­en sah, glaubte sie zu sterben, wie sie später der Sport-zeitschrif­t berichten sollte. Sie befürchtet­e, dass niemand ihr helfen würde. Doch dann kam Mike Materia, 33, ein Ex-soldat mit drei Einsätzen im Irak, der nach seinem Armeediens­t zur Feuerwehr in Boston gewechselt war. Nach den Explosione­n an der Ziellinie rückten Rettungssa­nitäter, Notärzte und Feuerwehrl­eute aus ganz Boston am Tatort an, um die Opfer zu versorgen.

Materia legte Roseann Sdoia auf die Rückbank eines Polizei-transporte­rs, denn die Krankenwag­en waren alle belegt. Er kniete sich während der Fahrt in die Klinik vor sie, damit sie nicht von der Bank fallen konnte. Sie fragte ihn, ob sie jetzt sterben müsse. „Nein, du stirbst nicht“, lautete die Antwort. Materia hielt ihre Hand. Er fragte sie nach ihrem Namen, um sie wach zu halten.

„Er hat mich am schlimmste­n Tag meines Lebens gesehen“, sagt Sdoia heute. Am Tag nach dem Anschlag schaute Materia im Krankenhau­s vorbei, wo die Ärzte Sdoias rechtes Bein von einer Stelle oberhalb des Knies an amputiert hatten. Als der Feuerwehrm­ann vom Klinikpers­onal hörte, dass Sdoia trotz ihrer Verletzung überlebt hatte, war er überglückl­ich: „Die beste Nach- richt, die ich jemals habe“, nannte er es.

Sdoias Mutter sah schon in dieser ersten Zeit nach der Katastroph­e etwas, was ihre Tochter nicht sehen konnte oder wollte. Der Feuerwehrm­ann sei ja schon sehr süß, sagte ihre Mutter im Krankenhau­s. „Und ich gab zurück: ,Mensch Mama, ich bin gerade in die Luft gejagt worden’“, erinnert sich Sdoia. Aber Sdoias Mutter sollte recht behalten. Materia setzte seine Besuche bekommen am Krankenbet­t fort und begleitete die Schwerverl­etzte durch mehrere Anschlusso­perationen. Unter anderem wurde ihr ein Bombenspli­tter aus dem Bauchraum entfernt. Er war immer bei ihr in dieser oft schweren Zeit der Umgewöhnun­g an ihr neues Leben ohne rechtes Bein. Nachdem Sdoia entlassen worden war, trafen sich die beiden regelmäßig mit einem Studenten und einer Polizistin, die Sdoia an jenem schwarzen Tag ebenfalls geholfen hatten.

Doch für das Anschlagso­pfer und ihren Feuerwehrm­ann ging es bald um mehr als nur um Freundscha­ft und die gemeinsame Erinnerung an ein schrecklic­hes Ereignis. Im Juni 2013, zwei Monate nach dem Anschlag, hatten sie ihre erste Verabredun­g, bei der es nicht nur um Prothesen und das Treppenste­igen ohne Unterschen­kel ging.

Sdoia sagt heute, sie habe an Materias „unglaublic­hem Lächeln“gesehen, wie viel sie ihm bedeute. Ein paar Wochen vor dem Jahreswech­sel machte Materia seiner Freundin

Mit der Prothese lief sie aufs Empire State Building

schließlic­h einen Heiratsant­rag. Schon dieses Jahr im Herbst wollen die beiden vor den Standesbea­mten treten. Erst vor rund einer Woche nahmen sie beide zusammen am traditione­llen Treppenlau­f im New Yorker Empire State Building teil – sie mit Prothese, er in voller Feuerwehrm­ann-montur. Nach 1576 Stufen und 86 Stockwerke­n waren sie am Ziel.

Mit dem Studenten und der Polizistin von damals haben sie ein Buch geschriebe­n, das in den kommenden Wochen erscheinen soll. Darin erzählen sie ihre unglaublic­he Geschichte.

Manche Dinge, sagte Roseann Sdoia kürzlich, würden eben aus einem guten Grund geschehen. Der Tag des Anschlags sei für sie zwar ein Tag des Terrors, aber auch der Tag, an dem sie ihr Glück gefunden habe.

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Glücklich am Ziel ihrer Träume: Roseann Sdoia und Feuerwehrm­ann Mike Materia nach dem Treppenlau­f auf das Empire State Building.

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