Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Der Dirigent muss bereit sein, zu sterben
Wer als junger Mensch den Drang zur Musik in sich spürt, gerne dirigiert und malträtiert, sowie in der Kunst nach dem Allerhöchsten strebt, wird irgendwann von den Berliner Philharmonikern träumen. Ein einziges Mal als Kirill Petrenko die feinsten Solisten unter dem Taktstock haben, sie vorwärtstreiben, den Ball halten, sie verstummen und aufleben lassen.
Mögen Wiener und Londoner Orchester in der ein oder anderen Disziplin vorne liegen, nirgendwo klingt es so lässig und frei wie in Berlin. Vergleichbar bestenfalls noch mit jenem Ensemble, das der Spanier Luis Enrique in Barcelona dirigiert. Betörende Einzelkönner, deren Zusammenspiel Steine erweichen lässt. Wenn Messi, Suárez und Neymar den Ball durch die Arenen der Welt streicheln und die Reihen finsterer Abwehrrecken teilen wie Moses das Meer, denkt der Laie: Wozu überhaupt einen Dirigenten? Die können das auch alleine. Da geht es Enrique dann wie Petrenko. Wenn es läuft, hält sie das Publikum für überflüssig.
Wehe aber das Ensemble verspielt! So, wie der FC Barcelona Dienstagnacht in Paris. Null vier! Dann liegt alle Schuld beim Dirigenten. In solchen Momenten wäre es schöner, einen Leierkasten zu dirigieren, den ein paar Amateurkicker in Schwung halten. Aber jetzt ist es zu spät. Spanische Medien verstehen in Fußballfragen keinen Spaß. Niederlagen ihrer Ensembles nehmen sie persönlich.
In solchen Nächten steht das Land vor der Apokalypse. Es geht um Schuld und Sühne. Marca fordert nichts weniger als den Kopf des Dirigenten. Enrique spielt auf Bewährung. Gelingt Barcelona im Rückspiel der große Paukenschlag, liegt ihm Spanien wieder zu Füßen. Vergeigt Enrique, ist er nicht mehr zu retten. Wer den FC Barcelona oder die Berliner Philharmoniker dirigieren will, muss bereit sein, auf die eíne oder andere Art dafür zu sterben.