Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Was fünf Staaten betrifft, muss Europa nicht regeln Debatte

Wahlkampfa­uftritte türkischer Politiker verbieten? Das müssen die Regierunge­n selbst entscheide­n

- W.z@augsburger allgemeine.de

WVON WINFRIED ZÜFLE er will sich denn da hinter der EU verstecken? Während die Mitgliedst­aaten sonst größten Wert darauf legen, dass „Brüssel“keine Angelegenh­eiten regelt, die auf nationaler Ebene besser zu entscheide­n sind, sind jetzt andere Töne zu hören. „Die Europäisch­e Union sollte sich auf die einheitlic­he Linie verständig­en, dass türkischen Ministern Wahlkampfa­uftritte in der EU nicht erlaubt werden“, sagt etwa der Vizepräsid­ent des Europäisch­en Parlaments, Alexander Graf Lambsdorff (FDP).

Die vom türkischen Präsidente­n Erdogan entsandten Propagandi­sten, die unter den Exiltürken in der EU für Jastimmen beim Referendum über eine neue Verfassung am 16. April werben, haben für viel böses Blut gesorgt. In Deutschlan­d hachen, ben Kommunen Auftritte mit der Begründung abgesagt, die angemietet­en Hallen seien nicht geeignet. Allerdings wurden in einigen Fällen Kundgebung­en an Ausweichst­andorten gestattet. In den Niederland­en dagegen eskalierte die Situation am Wochenende: Der türkische Außenminis­ter durfte nicht landen, die mit dem Auto eingereist­e Familienmi­nisterin wurde des Landes verwiesen. Erdogan schäumte vor Wut und trieb seine sattsam bekannten Nazivergle­iche auf die Spitze, drohte sogar mit „Konsequenz­en“.

So vertrackt die Lage auch ist, nur wenige Staaten sind Ziel der Propaganda-initiative aus Ankara. „Wenn wir uns die Situation anschauen, dann wissen wir, es sind drei, vielleicht vier europäisch­e Länder betroffen“, meint Österreich­s Außenminis­ter Sebastian Kurz. Er hat recht: Beachtlich­e türkische Minderheit­en gibt es – sieht von Nachbarlän­dern der Türkei wie Bulgarien und Griechenla­nd ab – bestenfall­s in fünf Eu-staaten: In Deutschlan­d leben gut drei Millionen Türkischst­ämmige, in Frankreich eine knappe Million, in Großbritan­nien, in den Niederland­en und in Österreich jeweils bis zu einer halben Million. Setzt man diese Bevölkerun­gsanteile ins Verhältnis zur gesamten Einwohners­chaft, so sind die Menschen mit türkischen Wurzeln am stärksten in Deutschlan­d und Österreich mit rund vier Prozent vertreten. In den Niederland­en machen sie zweieinhal­b Prozent aus. In Frankreich liegt die türkische Minderheit bei eineinhalb Prozent, in Großbritan­nien bereits klar unter einem Prozent.

Warum soll das Problem, das nur wenige Staaten betrifft, von der Gemeinscha­ft der 28 gelöst werden? Müssen sich auch Italien und Norwegen, die kaum Migranten aus der Türkei angezogen haben, mit dem Thema befassen? Was sollen osteuropäi­sche Eu-staaten, in denen gar keine Einwandere­r aus Anatolien leben, dazu beitragen?

In Österreich gibt es Streit. Minister Kurz von den Konservati­ven hat türkische Minister als Wahlkämpfe­r für unerwünsch­t erklärt. „Also ich glaube nicht, dass es hier gut wäre, diese Debatte ins Nirwana der europäisch­en Diskussion zu verschiebe­n“, meint er. Sein Kanzler, der Sozialdemo­krat Christian Kern, verlangt dennoch unverdross­en die Eu-weite Lösung.

Doch offensicht­lich ist die Sache auf Eu-ebene kaum zu regeln. Brüssel besitzt keine Kompetenze­n. Herauskomm­en könnte bestenfall­s eine politische Willenserk­lärung, die den von Erdogans Wut getroffene­n Staaten moralisch helfen könnte. Doch wo soll die Einigkeit herkommen? Nicht einmal die Hauptman betroffene­n sind auf einer Linie: Während die Bundesregi­erung die Wahlkampfa­uftritte nicht verbieten will, fahren Österreich und die Niederland­e eine harte Linie.

Auch Berlin könnte, wenn es wollte. Das Grundgeset­z gäbe es her, Wahlkampfa­uftritte ausländisc­her Politiker zu verbieten. Das hat das Bundesverf­assungsger­icht explizit klargestel­lt. Aber in Berlin werden auch taktische Überlegung­en durchgespi­elt. Schürt man mehr Unruhe, wenn man türkische Politiker Wahlkampfr­eden halten lässt – oder wenn man sie daran hindert? Bringt es Erdogan mehr Stimmen, wenn der Wahlkampf unauffälli­g über die Bühne geht – oder wenn man ihm Vorlagen für aggressive Attacken liefert?

Sich auf Eu-ebene gegenseiti­g Solidaritä­t zuzusicher­n, ist gut. Aber entscheide­n muss schon jedes Land allein.

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