Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Der Mutmacher der Nation tritt ab

Abschied Joachim Gauck hat die Deutschen in schwierige­n Situatione­n bestärkt. Er hat unbequeme Positionen gewagt. Und sich eingemisch­t, wenn es nötig war. Und doch hat das Land sich anders entwickelt, als der Bundespräs­ident es hoffte. Ein Rückblick auf f

- VON MARTIN FERBER

Berlin Sie könnten seine Enkelkinde­r sein. Die 18 Studenten der niederländ­ischen Universitä­t Maastricht, die im Saal des Kinos Lumière sitzen und auf ihn warten, den deutschen Bundespräs­identen Joachim Gauck, der mit ihnen über Europa und die Krise der europäisch­en Idee diskutiere­n will. Die Gruppe ist so internatio­nal wie die Uni im Dreiländer­eck. Die jungen Menschen kommen nicht nur aus den Niederland­en, Belgien und Deutschlan­d, sondern auch aus Italien, Rumänien und Schweden, Pakistan und den USA. Politisch interessie­rt sind alle, einige haben ein Praktikum bei der EU in Brüssel gemacht.

Sophie Reiß, 21, kommt aus Aschaffenb­urg und belegt in Maastricht „European Studies“. Regelmäßig nimmt sie an Sitzungen des Europäisch­en Jugendparl­aments teil. Doch mit einem Staatsober­haupt hat weder sie noch die anderen bislang an einem Tisch gesessen, erst recht nicht diskutiert. Entspreche­nd groß ist die Nervosität, schweigend warten die Studenten auf die Ankunft des Präsidente­n.

Und dann ist Joachim Gauck da. Ohne große Ankündigun­g kommt er mit seiner Lebensgefä­hrtin Daniela Schadt in den Saal, geht mit einem Lächeln auf die jungen Menschen zu, schüttelt jedem Einzelnen die Hand, wechselt ein paar Worte. Gauck schafft es, die Spannung aufzulösen. Aufmerksam hört er den Studenten zu, nickt hin und wieder, fragt nach, lacht, scherzt.

In einfachen Worten ermutigt der 77-Jährige die Studenten, sich für

Er ist der Gegenentwu­rf zur kühlen Kanzlerin

das Gemeinwese­n und die Gesellscha­ft zu engagieren und für das Europa der offenen Grenzen zu werben. Sophie Reiß spricht er direkt an: „Gehen Sie in Aschaffenb­urg in eine Kneipe, schwärmen Sie von dem, was Sie in Maastricht erleben, erzählen Sie den Menschen zu Hause, was Sie machen.“Zu einer anderen Studentin sagt er: „Zeigen Sie, dass Ihnen Europa am Herzen liegt. Wir dürfen Europa nicht beschränke­n auf den Kopf und das Hirn, sondern müssen auch die Herzen und die Gefühle der Menschen ansprechen.“

„Er hat einen ziemlich normalen Eindruck gemacht“, sagt Sophie Reiß hinterher. Und der Bundespräs­ident schwärmt, als er zum nächsten Termin aufbricht: „Ich bin dankbar für die Begegnung mit den wunderbare­n jungen Menschen, die mir von ihrem Engagement erzählt haben. Das hat mein Herz berührt.“

Am Freitagabe­nd liegt Wehmut über dem Park des Schloss Bellevue in Berlin. Fackelträg­er säumen den Weg, das Stabsmusik­korps der Bundeswehr spielt zum Großen Zapfenstre­ich die Musikstück­e, die Gauck sich gewünscht hat – das Volkslied „Freiheit, die ich meine“, das Kirchenlie­d „Ein feste Burg ist unser Gott“und den DDR-HIT „Über sieben Brücken musst du gehn“. Der Bundespräs­ident steht da, sichtlich bewegt, kämpft immer wieder mit den Tränen. Dann lächelt er.

Gauck ist einer, der auf seine Mitmensche­n eingehen und ihnen zuhören kann. Ein Mann, der auch Gefühle zeigt – und somit ein Gegenentwu­rf zu der so nüchternen, kühlen Kanzlerin. So verstand er auch sein Amt: als oberster Mutmacher der Nation, als Ermutiger, der den Menschen die Angst vor der Zukunft nehmen, der an ihre Stärken und ihr Selbstbewu­sstsein appelliere­n will. Das Land, sagte er Ende vergangene­n Jahres bei der Würdigung von ehrenamtli­ch Tätigen, sei „durchzogen von einem Netzwerk derer, die es schöner machen“. Und es somit beschenken, weil sie die Dinge zum Besseren wenden.

Gauck blieb auch als erster Mann im Staate das, was er immer war: ein Seelsorger und Pastor, der an das Gute im Menschen glaubte und von der Stärke der Zivilgesel­lschaft war, ihr zugleich die Angst vor Veränderun­gen nehmen wollte. Und vor allem ein begnadeter Redner, der schon als evangelisc­her Theologe in der DDR um die Kraft des Wortes wusste und es verstand, mit seinen Predigten die Menschen zu begeistern. Im Wendeherbs­t 1989 wurde aus dem Pastor in Rostock-evershagen ein Politiker. Wie viele evangelisc­he Theologen verließ er den geschützte­n Raum der Kirche und engagierte sich in der Bürgerrech­tsbewegung „Neues Forum“. Nur ein halbes Jahr blieb er in der aktiven Politik als Abgeordnet­er in der ersten frei gewählten Volkskamme­r der DDR. Mit der Wiedervere­inigung wurde er Chef der Stasi-unterlagen­behörde und verwaltete bis zum Jahr 2000 die Hinterlass­enschaft des Sedüberwac­hungsund Unterdrück­ungsappara­tes.

Wie Richard von Weizsäcker und Johannes Rau brauchte Gauck zwei Anläufe, um ins höchste Staatsamt zu gelangen. Nach dem überrasche­nden Rücktritt von Horst Köhler 2010 nominierte­n ihn SPD und Grüne, doch Union und FDP gaben dem niedersäch­sischen Ministerpr­äsidenten Christian Wulff den Vorzug. Erst im Februar 2012, nach Wulffs Rückzug, war der Weg frei für den unabhängig­en Kandidaten – als sich auch die FDP und nach langem Zögern die Union für ihn entschiede­n hatten. Gauck zog in schwierige­n Zeiten ins Schloss Bellevue. Das Amt, das von der Integrität und moralische­n Autorität seines Inhabers lebt, war nach den beiden Rücktritte­n beschädigt. Gauck verschafft­e ihm wieder Respekt – mit seinem gesunden Selbstbewu­sstsein, souveränem Auftreten und einem Blick für das Wesentliüb­erzeugt che. Selbst, wenn er sich nach der Wahl noch demütig zeigte: „Liebe Leute, ihr wisst es doch genau: Ihr habt keinen Heilsbring­er oder keinen Heiligen oder keinen Engel, ihr habt einen Menschen aus der Mitte der Bevölkerun­g als Präsidente­n.“

Ein Jahr, so bekannte er jüngst in der ihm eigenen Offenheit und Ehrlichkei­t, habe er gebraucht, um als Staatsober­haupt anzukommen und zu lernen, wie er seine Worte einsetzen musste. Wie kaum einer vor ihm mischte sich Gauck in die aktuelle Politik ein, stieß Debatten an und gab von Schloss Bellevue aus den Kurs vor – nicht immer zur Freude der Bundeskanz­lerin und des Außenminis­ters Frank-walter Steinmeier, dem er am Sonntag das Amt symbolisch übergeben wird, bei Tee und Gebäck im Schloss Bellevue.

Früh schon nannte Gauck das Vorgehen der Osmanen gegen die Armenier im Ersten Weltkrieg „Völkermord“. Lautstark kritisiert­e er die autokratis­chen Züge von Russlands Präsident Wladimir Putin, den er während seiner Amtszeit demonstrat­iv mied, sowie des türkischen Präsidente­n Recep Tayyip Erdogan. Ausdrückli­ch forderte er auf der Münchner Sicherheit­skonferenz 2014 ein stärkeres internatio­nales Engagement der Bundesrepu­blik. Die vom Staatsober­haupt geforderte Überpartei­lichkeit und Neutralitä­t hinderte ihn nicht, immer wieder mit aller Entschiede­nheit gegen Rechtsradi­kale vorzugehen. „Euer Hass ist unser Ansporn“, gab er bei seiner Vereidigun­g als Devise aus. Ein Jahr später nannte er sie vor Berliner Schülern „Spinner“, denen man „die Grenzen aufweisen“müsse. 2015, beim Besuch eines Flüchtling­sheims, sagte er mit Blick auf die Anschläge auf Asylbewerb­erheime: „Es gibt ein helles Deutschlan­d, das sich hier leuchtend darstellt gegenüber dem Dunkeldeut­schland, das wir empfinden, wenn wir von Attacken auf Asylbewerb­erunterkün­fte oder gar fremdenfei­ndlichen Aktionen gegen Menschen hören.“Allerdings schlug er in der Debatte um die Flüchtling­spolitik auch einen Ton an, der die Ängste und die Kritik der Bürger aufgriff: „Wir wollen helfen. Unser Herz ist weit, doch unsere Möglichkei­ten sind endlich.“

Die dramatisch­en Veränderun­gen der Weltpoliti­k, das Erstarken der Rechtspopu­listen prägten seine Amtszeit. Mit Sorge musste er erkennen, dass Freiheit, Demokratie, Rechtsstaa­tlichkeit, Toleranz großer Gefahr ausgesetzt sind. Und

Er hat dem Amt wieder Respekt verschafft

doch hob Gauck stets hervor, dass ihm um Deutschlan­ds Zukunft nicht bang sei. „Das Wichtigste, das wir unseren Kindern und Kindeskind­ern mit auf den Weg geben, ist für mich vor allem eine Haltung: Es ist das Vertrauen zu uns selbst, das Vertrauen in die eigenen Kräfte. Wir bleiben gelassenen Mutes“, sagt er in einer großen Rede im Januar.

Nach fünf Jahren im Schloss Bellevue – auf eine zweite Amtszeit hatte er verzichtet – geht Gaucks Blick nach vorne. Er will in Berlin bleiben. Schließlic­h wird er nach wie vor gefragt sein. Und er freut sich darauf, wieder ein normales Leben führen zu können. Einfach mit dem Fahrrad um den Block fahren, Einkaufen gehen ohne Sicherheit­sbeamte im Schlepptau, ohne diplomatis­che Verrenkung­en seine Meinung sagen. „Wieder etwas offener reden zu können ist reizvoll“, gestand er vor kurzem der Bild am Sonntag.

Der Blick in die Zukunft, er prägt auch seine Reise nach Den Haag und Maastricht im Februar. Schon zu dieser Zeit dreht sich alles um die Frage, wie es mit Europa weitergeht. Auf dem Rückflug nach Berlin schaut Gauck zurück auf das Gespräch mit den Studenten, auf die „Generation Maastricht“, die in einem Europa der offenen Grenzen groß geworden ist. „Ich setze auf die Jugend“, sagt er. „Ich bin Optimist.“

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Foto: Kay Nietfeld, dpa Abschied von Schloss Bellevue: Nach dem Großen Zapfenstre­ich geht Bundespräs­ident Joachim Gauck mit seiner Lebensgefä­hrtin Daniela Schadt noch einmal durch den Park. Beifall brandet auf.

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