Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Freundschaft trotz mancher Unterschiede
Ayda ist fünf Jahre alt und lebt mit ihren Eltern in Köln. Ayda kann schon ziemlich viel: Bis 23 rechnen, Deutsch und Persisch sprechen. Sie kennt sogar das türkische Wort „üzüntülü“. Das bedeutet traurig. Und das ist Ayda oft, weil die anderen sie nicht mitspielen lassen. Doch dann trifft das Mädchen Bär und Hase. Sie werden beste Freunde – trotz mancher Unterschiede.
Freundschaft, Toleranz, friedliches Zusammenleben: Die großen Themen des Autors Navid Kermani klingen im Kleinen in seinem ersten Kinderbuch „Ayda, Bär und Hase“an. Gegenseitigen Respekt predigt der Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels dabei nicht mit erhobenem Zeigefinger, sondern erzählt davon auf witzige Art und Weise ganz nebenbei. Es geht auch um Glück, Trauer, Einsamkeit und Selbstbewusstsein. Das kennt jeder, und Herkunft, Aussehen und Sprache spielen dabei keine Rolle. So ist es in Kermanis Buch egal, ob man Iraner, Deutscher, Türke, Bär oder Hase ist. Die Geschichte macht Kindern Mut, sich auch dort für neue Erfahrungen zu öffnen, wo sie sich zunächst fremd fühlen.
Schön ist Kermanis Stil. Mehrmals spricht er die jungen Leser direkt an, tritt mit ihnen in einen lockeren Dialog, bevor er mit der eigentlichen Geschichte fortfährt. Und so ist Aydas Leben zwar nicht perfekt. Sie hat aber gelernt: Traurig sein gehört auch einmal dazu. Und so ist das Leben am Ende doch „bis zum Himmel schön“. Navid Kermani: Ayda, Bär und Hase Hanser, 151 Seiten, 12 Euro – ab 6 Jahren Stefanie Höfler: Tanz der Tiefseequalle Beltz & Gelberg, 189 Seiten, 12,95 Euro – ab 12 Jahren
Nein, es muss kein rosaroter Mädchentraum sein, wenn sich in einem Buch ein Königssohn in eine Fee verliebt. „Die wundersamen Koffer des Monsieur Perle“ist ein dichter, kunstvoll komponierter Jugendroman und mit Sicherheit einer der außergewöhnlichsten dieses Frühjahrs. Dessen Autor ist Timothée de Fombelle, der in Frankreich zunächst Theaterstücke schrieb und inszenierte und in den vergangenen Jahren durch seine Jugendromane „Tobi Lolness“und „Vango“auffiel: Brillant geschriebene Geschichten mit starken Figuren und originellen Schauplätzen, die in ihrer komplexen Erzählweise zwar hohe Anforderungen an die Leser stellen, durch ihre ungeheure Spannung und ihren Humor aber eine große Sogwirkung entwickeln.
„Die wundersamen Koffer des Monsieur Perle“ist ebenfalls eine Geschichte, die einen nicht loslässt. Sie führt den Leser in ein Feenreich, in dem sich Prinz Iliån und die Fee Oliå ineinander verlieben. Es ist eine Liebe, die nicht sein darf, denn auch Iliåns Bruder, der tyrannische König des Reiches, begehrt die Fee und stellt seinem Bruder nach. Entkommen kann dieser nur durch den Verbannungszauber eines alten Magiers, der den Prinzen in unsere Welt schickt – ohne die Möglichkeit, jemals zurückzukehren und seine Geliebte wiederzusehen.
Iliån landet in einer Gewitternacht im Paris des Jahres 1936 direkt gegenüber der Schaumzuckerbäckerei des Ehepaares Perle. Die beiden nehmen den Jungen bei sich auf, in Erinnerung an den eigenen Sohn Joshua, der einige Jahre zuvor gestorben ist. Iliån nimmt Joshua Perles Namen an, erlebt Krieg und Gefangenschaft und vergisst aber niemals, woher er kam und was ihn dahin zurückzieht.
Auch in der realen Welt ist Iliån ein Getriebener – vor allem seiner Erinnerungen an das ferne Feenreich, und er weiß nicht, ob sie ein Trugbild sind. Doch dann findet er ein kleines Büchlein. „Das Buch sprach von Königreichen. Von unglücklichen Prinzen und Verbannungszaubern. All das existierte plötzlich. Da war seine Erinnerung, auf Papier gedruckt... Die Mauer seines Gefängnisses hatte einen Sprung bekommen. Es war ein winziger, fast unsichtbarer Riss. Aber der warme Luftzug erfüllte das ganze Zimmer und vermittelte ihm die verrückte Hoffnung, dass es irgendwo eine Tür gab und er eines Tages nach Hause zurückkehren würde.“
Das Märchenreich Iliåns und die historische Realität, die Joshua in den 30er und 40er Jahren des vergangenen Jahrhunderts erlebt, begegnen sich und Joshua geht nun auf die Suche nach Stücken aus seinem früheren Leben. Er sammelt Beweise seiner Liebe, reist dafür durch ganz Europa, jagt sie zweifelhaften Gestalten ab und verwahrt sie in hunderten von Koffern. Alles in der Hoffnung, dass ihn diese Sammelstücke zurückbringen in seine alte Welt: ein Weidenast, ein zierlicher Fingerhut, eine Kugel, in der ein Apfelkern eingeschlossen ist, ein
Die so außergewöhnliche wie kunstvolle Geschichte einer großen Liebe
winziges
Timothy de Fombelle verwebt die verschiedenen Realitäts- und Zeitebenen und formt daraus eine hoch emotionale, berührende Geschichte ohne aufdringliche Sentimentalität. Deren Zauber und Unausweichlichkeit fasst er in eine poetische Sprache, welche die Tragik der Ereignisse ebenso wahrhaftig vermittelt wie die Melancholie der Figuren.
Nicht nur damit feiert de Fombelle die Kraft des Erzählens. Geschrieben ist das Buch aus der Perspektive eines Schriftstellers, dem Joshua Perle in seiner Jugend begegnet war und Jahre später wieder mit diesem Erlebnis konfrontiert wird. Mit der Macht der Worte kann er die Geschichte formen und ihr Ende beeinflussen. „Manchmal sah ich die Zeilen beim Schreiben wie einen Weg, der sich von Seite zu Seite schlängelte und Iliån und Oliå nach Hause zurückführen würde. Je weiter ich vorankam, desto weiter entfernte sich ihre kleine Laterne in der nachtschwarzen Tinte. Ich dachte daran, dass sie beim letzten Wort vielleicht nicht mehr da wären.“
Geblieben ist dann aber nichts weniger als eine grandiose Geschichte. perlenbesticktes Nachthemd. Timothée de Fombelle: Die wundersamen Koffer des Monsieur Perle Aus dem Französi schen von Sabine Grebing und Tobias Scheffl; Gerstenberg, 304 Seiten, 18,95 Euro – ab 14 Jahren