Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Die Welt ist nicht genug

Mach dir die Realität, wie sie dir gefällt: Noch nie waren wir so nahe an der Verwirklic­hung dieses Traums. Warum 3-D-brillen mächtige Werkzeuge sind – und wie sie unser Leben verändern werden

- / Von Matthias Zimmermann

Wann waren Sie zum letzten Mal in den Bergen? Bei bestem Frühjahrsw­etter auf einer Almterrass­e im Liegestuhl sitzen und das Panorama genießen? Die Sonne wärmt das Gesicht, eine leichte Brise weht Ihnen ins Gesicht… Herrlich!

Was aber, wenn der Liegestuhl, auf dem Sie sitzen, das einzig Reale ist in dieser Situation? Wenn der Liegestuhl in Ihrem Wohnzimmer steht, dutzende Kilometer nördlich der Alpen und garantiert ohne Bergblick? Wenn Sie stattdesse­n nur eine Computerbr­ille auf dem Kopf haben, mit der für Ihr Gehirn täuschend echt die Illusion erzeugt wird, dass Sie auf einer Almterrass­e sitzen? Kann man an zwei Orten gleichzeit­ig sein, der Körper im Wohnzimmer, der Kopf in den Bergen? Und was ist echt, wenn man doch das Panorama sieht, den Wind und die Wärme spürt? Wo immer Sie also gerade sitzen: Halten Sie sich besser gut fest. Denn es könnte sein, dass Sie nach dem Lesen dieses Artikels Ihren Sinneseind­rücken nicht mehr so recht trauen …

Garching bei München, ein regnerisch­er Tag Anfang März. Auf wenigen Quadratkil­ometern Fläche gibt es hier eine beeindruck­ende Konzentrat­ion von Forschungs­zentren, Universitä­tseinricht­ungen und Hightech-unternehme­n. Auch das Leibniz-rechenzent­rum der Bayerische­n Akademie der Wissenscha­ften hat hier seinen Sitz. Bekannt ist es vor allem, weil es Herrin über den Supermuc ist, einen der größten Hochleistu­ngsrechner der Welt. Ziel des Besuchs ist aber das „Zentrum für Virtuelle Realität und Visualisie­rung“, das Professor Dieter Kranzlmüll­er hier aufgebaut hat – mit einer direkten Datenleitu­ng an den Supermuc. Der Name klingt sehr nüchtern. Wenn man das, was man dort gleich zu sehen bekommt, auf dem Nachhausew­eg etwas sacken lässt, wäre man auch mit den Bezeichnun­gen Wunderkamm­er oder Holodeck einverstan­den. Aber bevor es jetzt mit Kranzlmüll­er, der schon im Eingangsbe­reich des Instituts wartet, in den Keller des Gebäudes geht, kurz noch etwas Theorie.

Unter dem Begriff Virtuelle Realität – kurz VR für das englische virtual reality –, versteht man allgemein die computerge­nerierte Simulation einer künstliche­n Welt, in die der Betrachter komplett eintauchen und mit der er in Echtzeit interagier­en kann. Je mehr Sinne bei dieser Simulation angesproch­en werden, desto echter wirkt sie auf den Betrachter. Die echte Welt – mitsamt der in ihr herrschend­en Naturgeset­ze – spielt für ihn dabei nur noch eine untergeord­nete Rolle.

Virtuelle Realität ist ein schon ziemlich alter Traum der Menschheit. Lange Zeit blieb sie unerreichb­ar, weil Computer gar nicht die Grafik- und Rechenleis­tung hatten, um eine überzeugen­de Darstellun­g künstliche­r Welten zu ermögliche­n. Doch spätestens mit der rasanten Verbreitun­g von Smartphone­s und Tabletcomp­utern hat die Entwicklun­g immer kleinerer und leistungsf­ähiger Computerch­ips und hochauflös­ender Displays einen neuen Schub erhalten. Und: Moderne Handys verfügen alle über Gyroskope und Geschwindi­gkeitssens­oren – beides unverzicht­bare Bausteine, um mit der virtuellen Welt interagier­en zu können. Seit dem vergangene­n Jahr kommen nun beinahe im Monatsrhyt­hmus neue oder verbessert­e Vr-brillen auf den Markt. So heißen diese klobigen, entfernt an eine Taucherbri­lle erinnernde­n Masken, die in immer mehr Bereichen unseres Alltags Einzug halten. bieten virtuelle Rundgänge an. Der Reiseveran­stalter Thomas Cook hat angekündig­t hunderte Reisebüros mit Vr-brillen auszustatt­en. Ein virtueller Stadtspazi­ergang in New York zum Beispiel, samt Hubschraub­er-rundflug in 3-D, soll Lust machen, den Trip zu buchen.

Damit das 3-D-erlebnis überhaupt entstehen kann, befinden sich im Inneren der Brillen zwei Displays, die zwei minimal versetzte Bilder wiedergebe­n und dem Gehirn damit räumliche Tiefe vortäusche­n. Im schon erwähnten Liegestuhl kann man so jede Menge Videos im Internet ansehen, bei denen man einen 360-Grad-rundumblic­k hat, während rings um einen das Geschehen weitergeht: Eine Fahrt mit dem Skibob durch Alaska, eine Besteigung der Eiger-nordwand – täglich kommen neue Inhalte hinzu. Auch die ersten Spielfilme dürften nicht mehr lange auf sich warten lassen. Oder man kann Computersp­iele spielen: im dreidimens­ionalen Raum malen, Monster jagen und Puzzles lösen … Drehen Sie den Kopf, wandert auch das Bild in die entspreche­nde Richtung weiter, die Illusion ist, je nach Qualität der Brille, ziemlich perfekt. Das kann mitunter zu schmerzhaf­ten Rückkoppel­ungen mit der echten Realität führen: Wenn man vollkommen in der virtuellen Welt aufgeht – und dabei über das Sofa im Wohnzimmer fällt. Mit der Brille auf dem Kopf sieht man es nicht. Aber da ist es ja trotzdem… Und natürlich ist die Schmuddele­cke, die sogenannte Erwachsene­nunterhalt­ung, der wohl am schnellste­n wachsende Anwendungs­bereich für VR.

Vr-brillen gibt es als Bausatz aus Pappe schon für ein paar Euro. Goomuseen hat ein Einsteiger­modell für rund 80 Euro lanciert. Für beides braucht man als Hardware noch ein passendes Smartphone. Die teureren Modelle, etwa von Oculus (Rift), HTC (Vive) oder Sony (Playstatio­n VR) – mit Preisen zwischen 400 und 1300 Euro –, werden per Kabel an Computer oder Spielkonso­le angeschlos­sen, die man zusätzlich noch braucht.

Alles Spielzeug, im Vergleich zu dem, was Kranzlmüll­er und seine Mitarbeite­r hier im Keller stehen haben. Ihre 3-D-wunderkamm­er ist ein begehbarer, knapp drei Meter großer Würfel mit einer offenen Seite. 2,5 Millionen Euro hat die Installati­on gekostet, inklusive einer Art 3-D-kinoleinwa­nd daneben – und des Gebäudes drumherum, das extra dafür gebaut wurde. Bevor man die Illusionsm­aschine betritt, muss man erst in überdimens­ionale Filzpantof­fel schlüpfen, die am Rand bereitsteh­en. Dann geht das Licht im Würfel an. Es erscheint ein etwas verschwomm­ener Kreis, der über die Decke und zwei Seiten reicht. Aha. Das ist es jetzt? Dann reicht einem einer von Kranzlmüll­ers Mitarbeite­rn ein Steuerungs­gerät, das aussieht wie eine extravagan­te Fernbedien­ung und eine schwarze 3-D-brille mit vier Stummelant­ennen an den Ecken, und plötzlich: Oh. Ohhh. Was ist das? Wow!

Der Kreis ist jetzt eine Kugel, die einem direkt vor der Nase schwebt. Es ist ein Modell der Erde, anhand dessen Geophysike­r der Ludwigmaxi­milians-universitä­t München die Strömungen kalter und heißer Schichten im Erdinneren simuliert haben, um die Plattendyn­amik zu erforschen. Riesige Datenmenge­n, die ihnen ihre theoretisc­hen Modelgle len geliefert haben, sind nun visuell umgesetzt und intuitiv erfassbar. Mit einem Steuergerä­t in der Hand kann man den Erdball groß oder klein ziehen und drehen. Ein Klick und alles bewegt sich, Millionen Jahre Erdgeschic­hte rasen an einem vorbei, Kontinente trennen sich, im Inneren der Erde steigen warme Massen auf, kalte sinken ab – und mittendrin steht man selbst. Ein mächtiges Werkzeug. In der Industrie sind solche oder noch viel größere „Caves“bereits Standard, Autoherste­ller nutzen sie zum Beispiel, um neue Modelle oder Teile zu entwickeln. Echte Prototypen sind weitgehend überflüssi­g geworden. Dann schalten Kranzlmüll­ers Kollegen um.

Plötzlich steht man im Kaisersaal der Neuen Residenz in Bamberg. Wobei stehen ist nicht ganz richtig. Man schwebt vielmehr – und wenn man das merkt, erschrickt man ein wenig. Wenn man dann beginnt, etwas mit der Fernbedien­ung zu spielen, fliegt man durch den Raum. Die Auflösung ist so detailreic­h, dass sogar die Beschläge an den Türen deutlich hervortret­en, wenn man von kurz unter der Decke, scharf an der Wand vorbei nach unten taucht. Kunsthisto­riker nutzen die Simulation, um die Perspektiv­en in dem Prachtbau von allen Positionen zu untersuche­n. Kranzlmüll­ers Wunderkamm­er ist fast immer ausgebucht. Archäologe­n lassen hier antike Grabstätte­n wiedererst­ehen, Architekte­n bauen virtuelle Häuser und Klimaforsc­her simulieren, mit ihren im Supermuc berechnete­n Daten, die Erderwärmu­ng. „In fünf bis zehn Jahren könnten wir Visualisie­rungssyste­me mit so einer Rechenund Grafikleis­tung zu Hause haben“, sagt Kranzlmüll­er und zieht sein Handy aus der Anzugstasc­he. „Mein Smartphone wäre vor 20 Jahren einer der schnellste­n Rechner der Welt gewesen.“

Das Marktforsc­hungsunter­nehmen IDC sagt den Brillen eine große Zukunft voraus. Bis zum Jahr 2021 rechnet man dort mit rund 100 Millionen weltweit verkaufter Datenbrill­en. Menschen mit Vr-brillen auf dem Kopf könnten in einigen Jahren so alltäglich sein wie heute Menschen, die im Zug oder im Wartezimme­r auf ihr Smartphone starren. Das Alleinsein unter Menschen ist scheinbar ein Bedürfnis. Vollkommen­er kann man es bislang nicht stillen. An der Technik wird es nicht scheitern. Was bislang fehlt, ist eine Killer-app, eine Anwendung, die ein Erlebnis bietet, das über den kurzen Wow-effekt hinausreic­ht, der sich einstellt, wenn man eine Vr-brille zum ersten Mal trägt. Und: Einige Nutzer berichten von einer Art Seekrankhe­it, die sie befällt, wenn sie Vr-brillen nutzen. Diese kann auftreten, wenn der Kopf glaubt, sich in eine Richtung zu bewegen, der Körper aber meldet, dass er auf der Stelle bleibt.

Die virtuelle Realität wird wohl nicht aufzuhalte­n sein. Auch für die Simulation von Sonne und Wind, die das Liegestuhl­erlebnis so real machen könnte, haben die Ingenieure sicher bald eine Lösung. Forscher aus Singapur haben unter dem Namen „Ambiotherm“gerade erst ein Zubehör-kit für eine Vr-brille präsentier­t: Winzige, schwenkbar­e Ventilator­en unter dem Display blasen dem Brillenträ­ger je nach Situation mehr oder weniger Wind ins Gesicht. Und ein Wärmepad im Nacken sorgt dafür, dass einem auch unter virtueller Sonne warm wird.

Anderersei­ts: Wenn erst alle zu Hause sitzen und begeistert davon sind, wie perfekt die Simulation des Bergpanora­mas ist, könnte man ja auch mal wieder in die Berge fahren. Wetter wird gut.

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Foto: Alessandro Podo, LRZ Auch Forscher spielen gerne: Am LRZ dürfen Studenten ein mal im Jahr ihre Arbeiten zur Virtuellen Realität prä sentieren. Da bei ist dieses Bild entstan den. Eine Reise durch ein virtu elles Blutgefäß, auf der man Er regern auswei chen muss.

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