Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Die Hölle von Wien

Skandal Während der Nazi-diktatur wurden in einer Psychiatri­e hunderte Kinder ermordet. Nun steht fest: Auch in den Jahrzehnte­n danach herrschte in der städtische­n Einrichtun­g brutale Gewalt. Und nicht nur dort. Über Zwangsjack­en, Pharmatest­s und eine Mau

- VON MARIELE SCHULZE BERNDT

Wien Friedrich ist viereinhal­b, als seine Leidenszei­t beginnt. Heute würde man vielleicht sagen: Der Junge hatte sich auffällig verhalten. Er ließ seine Aggression­en an der Mutter und dem achtjährig­en Bruder aus. Irgendwann im Jahr 1963 wendet sich die Mama mit der Bitte um Rat an Professor Andreas Rett. Der Mann, 1924 im fränkische­n Fürth geboren, früh in die NSDAP eingetrete­n, ab 1949 österreich­ischer Staatsbürg­er, ist Chef der Ambulanz für Kinderpsyc­hiatrie und der Abteilung für entwicklun­gsgestörte Kinder im Neurologis­chen Krankenhau­s Rosenhügel in Wien. Als Koryphäe in der Behinderte­nforschung lässt er hier Kinder therapiere­n, die ihm medizinisc­h interessan­t erscheinen – oder zahlungskr­äftige Eltern haben. Die übrigen kleinen Patienten schickt er in eine andere städtische Einrichtun­g, den Pavillon 15 des Psychiatri­schen Krankenhau­ses „Am Steinhof“. Den berüchtigt­en Pavillon 15.

Auch Friedrich muss dorthin. Von da an verbringt er sein Leben in einem Netzbett. Wie der Name sagt, ist das ein Bett, das fast käfigartig von Netzen umgeben ist und Vorrichtun­gen zur Fixierung enthalten kann. Friedrich darf es nicht verlassen. Die Krankenakt­e belegt, dass er mit verschiede­nen Beruhigung­smitteln in zum Teil sehr hohen Dosen

Je älter er wird, umso seltener darf er heim

behandelt wird. Zunächst holen seine Eltern ihn noch häufig nach Hause. Doch je älter er wird, desto seltener darf er heim. Die Krankenakt­en dokumentie­ren keine Fortschrit­te. 1977 wird er in eine Erwachsene­nabteilung verlegt. Auch dort bleibt er eingesperr­t und wird medikament­ös ruhiggeste­llt. Erst in den 80er Jahren ist in seiner Akte von therapeuti­scher Betreuung die Rede. 1997 zieht er in eine Wohngemein­schaft. Weitere Informatio­nen gibt es nicht.

Oder: die Geschichte von Petra. Sie wird als Vierjährig­e 1973 aus einem katholisch­en Heim nach Steinhof gebracht, weil sie „gegen ihre Umgebung Aggression­en zeigt“. In Steinhof wird sie an „Armen und Beinen beschränkt“, also angegurtet. Sie erhält Beruhigung­smittel. „Abends 2,5 mg Temesta, ev. Dosis verdoppeln“, heißt es in der Krankenakt­e. Ab 1974 ist von selbstbesc­hädigendem Verhalten die Rede. Erst 1977 verzeichne­n die Krankenakt­en eine erste Therapie.

So wie Friedrich und Petra durchleide­n tausende Kinder die „Hölle von Steinhof“. Wo Zwangsjack­en und Netzbetten, Fesseln und Schläge mit nassen Tüchern an der Tagesordnu­ng sind. Und Wasserhähn­e „aus Sicherheit­sgründen“blockiert werden, sodass die Patienten aus der Toilette trinken müssen.

Vielleicht wüsste man das alles bis heute nicht, wäre nicht die frühere Pflegerin Elisabeth Pohl vor fünf Jahren damit an die Öffentlich­keit gegangen. Ein Skandal, der enorme Wellen schlug. Die Stadt Wien gab daraufhin beim Rechts- und Kriminalso­ziologisch­en Institut der Universitä­t eine Studie in Auftrag, die die stationäre Unterbring­ung von Kindern und Jugendlich­en in der Wiener Psychiatri­e von 1945 bis 1984 untersuche­n sollte. Das Forschungs­team hatte Zugang zu den Akten der Verwaltung und führte Gespräche mit mehr als hundert Zeitzeugen. Nun liegen die Ergebnisse vor, auf 632 Seiten. Sie belegen, dass die Zustände in den Kinderpavi­llons noch weit schlimmer waren, als Elisabeth Pohl das geschilder­t hat.

Und nicht nur dort. Auch in der bis dahin als renommiert geltenden Rett-klinik am Rosenhügel herrschten skandalöse Zustände. Zwangsster­ilisierung­en fast aller Mädchen in der Klinik wurden als Blinddarmo­perationen getarnt. Schwangers­chaftsabbr­üche und Pharmatest­s lassen den Schluss zu, dass aus dem Grauen der Ns-zeit nichts gelernt wurde. Auch dass selbst nach dem Krieg noch Gehirne von 76 in Steinhof angeblich an Lungenentz­ündung gestorbene­n Kindern an ein Institut zur Erforschun­g kindlicher Hirnschäde­n weitergege­ben ● wurden, lässt keine anderen Schlüsse zu.

In der Tat haben ein bis zwei der Ärzte und Pflegerinn­en schon im Nationalso­zialismus in denselben Abteilunge­n gearbeitet. Diese hatten zwischen 1940 und 1945 zur Tötungsans­talt „ Am Spiegelgru­nd“gehört, wo der leitende Neurologe Heinrich Gross Euthanasie­programme durchführt­e. Mindestens 789 Kinder und Jugendlich­e wurden dort ermordet. Tatsächlic­h waren es wohl weit mehr.

Damals unterschie­den die Ärzte und Psychologe­n zwischen „bildungsun­fähig“und „bildungsfä­hig“. Wer als „bildungsun­fähig“eingestuft wurde, dem drohte die „klinische Hinrichtun­g durch Schlafmitt­el“, heißt es in der Studie. Auf den Obduktions­anweisunge­n, die die Leichen toter Kinder aus dem Pavillon 15 bis in die neunziger Jahre begleitete­n, stand einfach nur „ad Gross“. Offenbar fand man nichts dabei, dem Mann weiterhin „Material“zu liefern. Gross wurde erst 1997 des Mordes angeklagt. Zu einem Prozess kam es aus Gesundheit­sgründen nicht mehr. Gross starb 2005 im Alter von 90 Jahren.

Hemma Mayrhofer, die Leiterin des Forschungs­projekts, sieht im Kinderpavi­llon die „Endstation indrittel stitutione­ller Karrieren von Wiener Kindern und Jugendlich­en mit Behinderun­g“. Hinzu kommt, dass Menschenwü­rde keine Bedeutung hatte. Nicht einmal die Minimalbed­ingungen der Pflege wurden erfüllt. Dürftig ausgestatt­ete Schlafsäle, eine Zahnbürste für mehrere Kinder, eine Haarbürste für 70 Kinder, kaum Kleidung, wenig Nahrung und vor allem keinerlei Förderung oder Therapie hätten dazu geführt, so Mayrhofer, dass sich der Zustand der Kinder nach ihrer Einweisung massiv verschlech­terte. Da sie fast ausschließ­lich im Bett lagen und im Schnelldur­chgang gefüttert wurden, konnten sie sehr bald nicht mehr allein essen und entwickelt­en motorische Störungen. „Die Patienten bewegten sich in den Gitterbett­en mit tagsüber nur einem Holzbrett, die Matratze kam erst abends hinein, wie Affen im Käfig, entschuldi­ge“, beschreibt ein ehemaliger Betreuer im Interview.

Gesprächsp­artner berichten darüber, wie stark ihre Geschwiste­r abbauten, wenn sie in den Pavillon 15 kamen. „Er war eigentlich ein tüchtiges Kind, muss ich sagen“, erzählt eine Angehörige. „Als ich dann gehört habe, er ist nicht förderbar, später wie ich dann älter wurde, habe ich gedacht: Wahnsinn, er hat selbststän­dig gegessen, er war sauber, er ist mit uns spazieren gegangen, er ist wahnsinnig gern Roller gefahren, das hat er geliebt.“

Die Studie weist darauf hin, dass allein die Interessen des überforder­ten Personals die Abläufe bestimmten. Erst ein Elternvere­in setzte Mitte der achtziger Jahre Reformen durch. Hintergrun­d für die Einweisung ins Heim war für viele zum Teil lernschwac­he Kinder, dass sich Kindergärt­en und Schulen weigerten, mit ihnen zu arbeiten. Auch Krankenhäu­ser lehnten es ab, behinderte Kinder nach einem Unfall aufzunehme­n.

Und die Wiener Politik? Die schaute weg und schwieg. Obwohl sie über Jahrzehnte hinweg wusste, wie es in den Heimen zuging. Und mittendrin die regierende SPÖ. Aus Angst vor einem Wahlsieg der konservati­ven ÖVP nahmen die Sozialdemo­kraten hin, dass Ns-ärzte auch nach dem Krieg ihr Unwesen treiben durften. Und auch die Kontrollin­stanz der Kliniken, die Jugendwohl­fahrt, griff nicht ein. Sie vertraute den Einrichtun­gen und entschuldi­gte bekannte Missstände mit Personalma­ngel.

Ein erster konkreter Schritt, Konsequenz­en aus diesem Skandal zu ziehen, war Mitte 2015 das bundesweit­e Verbot von Netzbetten. Aber das Problem liegt noch tiefer; in vielen Kinderheim­en herrschten teils unwürdige Zustände. Ein Staatsakt für die Betroffene­n im vergangene­n November im Parlament endete beinahe mit einem Eklat. Der Wiener Kardinal Christoph

Die Opfer fallen dem Kardinal ins Wort

Schönborn war gerade dabei, sich bei den Opfern zu entschuldi­gen. „Wir haben in der Kirche zu lange weggeschau­t“, sagte er. „Wir haben vertuscht, wir haben, wenn Missbrauch bekannt geworden ist, Leute versetzt und nicht abgesetzt. Für diese Schuld stehe ich heute vor Ihnen und sage, ich bitte um Vergebung.“Die Angesproch­enen fielen ihm daraufhin ins Wort – später auch anderen Rednern – und verlangten „mehr als Worte“.

Mit Erfolg: Kurz vor Veröffentl­ichung der Studie hat das österreich­ische Kabinett beschlosse­n, dass Menschen, die als Kinder in Heimen vernachläs­sigt wurden, zu ihrer Pension oder Rente eine gesetzlich­e Rente von zusätzlich 300 Euro monatlich erhalten werden. Etwa 7000 Personen sollen davon profitiere­n. Kirchen und Bundesländ­er, die ebenfalls Heime betrieben haben, sollen an den Kosten beteiligt werden. Die machen etwa neun Millionen Euro im Jahr aus. Bisher haben die Heimträger ungefähr 80 Millionen Euro an Entschädig­ungen und für Therapien gezahlt, allein die katholisch­e Kirche 22 Millionen.

Lange Zeit hat die Stadt Wien Entschädig­ungszahlun­gen abgelehnt, weil die damit verbundene­n Kosten unüberscha­ubar seien. Jetzt also doch. Ein kleiner Akt der Wiedergutm­achung. Für Friedrich, Petra und all die anderen, die die Hölle von Wien durchleide­n mussten.

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Foto: Herbert Pfarrhofer, Picture Alliance In solchen Netzbetten vegetierte­n die Kinder teils viele Jahre vor sich hin. Sie wurden Mitte 2015 in ganz Österreich verboten. Das Foto entstand 2007 bei einer Überprüfun­g des Otto Wagner Spitals. So heißt das psychiatri­sche Krankenhau­s „Am...

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