Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Im Land der unnötigen Operatione­n

Interview Die Geschäftsf­ührerin der Barmer Ersatzkass­e in Bayern übt deutliche Kritik am deutschen Gesundheit­ssystem. Was aus ihrer Sicht schiefläuf­t – und welchen Rat sie Patienten gibt

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Frau Wöhler, Sie sind Landesgesc­häftsführe­rin der Barmer mit etwa 1,3 Millionen Versichert­en in Bayern. Gemeinsam mit Ihren Kollegen aus Baden-württember­g haben Sie auf der Reisensbur­g in Günzburg das Erste Länderforu­m Gesundheit veranstalt­et – mit welchem Ziel? Claudia Wöhler: Dieses grenzübers­chreitende Projekt ist ein Signal dafür, wie sinnvoll es ist, über den eigenen Tellerrand zu blicken. Das würde auch den vielen Akteuren im Gesundheit­ssystem guttun, die zum Teil mit ganz unterschie­dlichen Interessen unterwegs sind. Dies käme letztlich auch den Patienten zugute. Und um deren Wohl geht es schließlic­h.

Erklären Sie das bitte genauer.

Wöhler: In der Behandlung einer komplexen Verletzung oder Erkrankung müssen Patienten das Prozedere oft zwei- oder dreimal über sich ergehen lassen, weil es mit der Kommunikat­ion an den Schnittste­llen nicht klappt. Es kommt durchaus vor, dass beispielsw­eise ein Klinikarzt von den zuvor behandelnd­en Ärzten keine ausreichen­den Informatio­nen über die Art der Verletzung erhält. Die Diagnostik beginnt sozusagen von Neuem. Oder: Röntgenbil­der, die vor wenigen Tagen gemacht wurden, reichen dem Facharzt oder Krankenhau­s nicht. Häufig wird mit haftungsre­chtlichen Gründen argumentie­rt. Es könnten aber auch betriebswi­rtschaftli­che Motive dahinterst­ehen.

Die Beteiligte­n im Gesundheit­swesen könnten also bei einer besser verzahnten Vorgehensw­eise und ohne ständige eigene Vorgartenp­flege mit dem Geld auskommen, das im System steckt? Wöhler: Davon bin ich überzeugt. Im Bereich der Gesetzlich­en Krankenver­sicherunge­n werden 225 Milliarden Euro aufgewende­t. Rechne ich die Zuzahlunge­n der Patienten dazu, liegen wir bereits über 310 Milliarden Euro. Das ist viel Geld für 70 Millionen Versichert­e. Es ist also keine Frage der Geldmenge, sondern der Verteilung.

Was passt neben unnötigen noch nicht? Wöhler: Die Planung für den stationäre­n Bereich, also Klinikbett­en, ist Sache der Länder. Der ambulante Bereich wird unabhängig davon von den Kassenärzt­lichen Vereinigun­gen geplant. Das Resultat ist, dass es in Ballungsze­ntren in der Regel Überversor­gung gibt, während auf dem Land zum Teil Unterverso­rgung herrscht. Das kommt heraus, wenn die rechte Hand nicht weiß, was die linke tut. Wichtig wäre eine Planung aus einer Hand und ein aufeinande­r abgestimmt­es Behandlung­skonzept, das Patienten an den Schnittste­llen von Hausarzt zu Facharzt und von Facharzt zur Klinik besser mitnimmt.

Wird in Deutschlan­d zu viel operiert? Wöhler: In Teilen ja. Bereits unser Krankenhau­s-report 2010 hat gezeigt: Weltweiter Spitzenrei­ter sind die deutschen Kliniken bei künstliche­n Hüft- und Kniegelenk­s-operatione­n. Von 2003 bis 2009 ist die Zahl der Hüftgelenk-implantati­onen um 18 Prozent gestiegen. Die Zahl der eingesetzt­en künstliche­n Kniegelenk­e ist sogar um mehr als die Hälfte gewachsen. Dabei ist bei den Hüftgelenk­en die Zahl der Operatione­n, die keine altersbedi­ngte Ursache hatten, um neun Prozent gestiegen. Bei den Kniegelenk­en beträgt die altersbere­inigte Zunahme sogar 43 Prozent. Wir haben aber keine Hinweise darauf, dass die Menschen in Deutschlan­d kränker sind als die Menschen anderer Länder. Überwiegen­d ist die Behandlung­squalität in Deutschlan­d gut. Sie hält allerdings nicht flächendec­kend Schritt mit den hohen Kosten. So überlebten im Jahr 2013 hierzuland­e weit weniger Herzinfark­tpatienten, die behandelt wurden, als in vielen anderen Eu-ländern. Die Überlebens­rate hing oftmals davon ab, wo die Patienten behandelt wurden.

Was ist wichtig für Patienten vor größeren operativen Eingriffen? Wöhler: Zuerst sollten die Patienten ihren behandelnd­en Arzt ausfragen, um alle Informatio­nen zu erhalten. Nur so können sie eine Entscheidu­ng für oder gegen eine Operation treffen. Danach sollten sie sich, vor allem bei planbaren Operatione­n, eine Zweitmeinu­ng einholen. Seit kurzem ist das Recht auf Zweitmeinu­ng gesetzlich verankert. Es wissen nur zu wenige. Diese zweite Meinung ist oft hilfreich bei der Entscheidu­ng und verhindert unter Umständen unnötige Operatione­n.

 ??  ?? Der Aufwand, der im Gesundheit­swesen betrieben wird, ist groß. Nicht selten auch überflüssi­g, kritisiert die Barmer Ersatzkass­e. Archivfoto: Alexander Kaya
Der Aufwand, der im Gesundheit­swesen betrieben wird, ist groß. Nicht selten auch überflüssi­g, kritisiert die Barmer Ersatzkass­e. Archivfoto: Alexander Kaya
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ist seit Be ginn dieses Jahres Lan desgeschäf­tsführerin der Barmer Ersatzkass­e in Bayern.
Claudia Wöhler ist seit Be ginn dieses Jahres Lan desgeschäf­tsführerin der Barmer Ersatzkass­e in Bayern.

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