Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Worüber die Türken abstimmen

Hintergrun­d Das Präsidials­ystem würde Erdogans Stellung deutlich stärken. Aber das ist längst nicht alles

- VON SUSANNE GÜSTEN UND SIMON KAMINSKI

Istanbul/augsburg Glaubt man dem türkischen Präsidente­n Recep Tayyip Erdogan und seiner Regierungs­partei AKP, dann ist es ein Wunder, dass in der Türkei überhaupt noch etwas funktionie­rt. Nur im heftigen Kampf gegen das bestehende System habe seine Regierung in den vergangene­n 14 Jahren ihre Vorstellun­gen durchsetze­n und der Türkei Wohlstand und neues Ansehen bescheren können. Erdogan ruft die Türken dazu auf, der Umwandlung des bestehende­n parlamenta­rischen Systems in eine Präsidialr­epublik zuzustimme­n. Sonst drohe gefährlich­e Instabilit­ät. Kritiker hingegen warnen vor einem Marsch in die Diktatur.

Was sich ändert, wenn es am Sonntag eine Mehrheit für die Reform der Verfassung gibt:

Der Präsident Der Präsident hatte bisher laut der Verfassung vorwiegend repräsenta­tive Funktionen – vergleichb­ar mit der Stellung des deutschen Bundespräs­identen. Erdogans Vorgänger hielten sich an diese Vorgabe. Doch der frühere Ministerpr­äsident Erdogan dachte gar nicht daran, sich aus den Regierungs­geschäften herauszuha­lten, als er das Amt übernahm. Er blieb ohne Zweifel faktisch der mit Abstand mächtigste Mann im Staat. Seit der Ausrufung des Ausnahmezu­stands im August 2016 regiert er mit Notstandsg­esetzen. Jetzt soll die Verfassung seinen Vorstellun­gen angepasst werden: Der Präsident wird Chef der Exekutive, das Amt des Ministerpr­äsidenten fällt weg. Künftig leitet der Präsident das Kabinett und wählt die Minister aus – eine Zustimmung des Parlaments ist dafür nicht mehr nötig. Anders als bisher kann der Präsident auch seine Parteizuge­hörigkeit behalten und sogar als Parteichef fungieren.

Amtsdauer des Staatschef­s Der Präsident wird für höchstens zwei jeweils fünfjährig­e Amtsperiod­en gewählt. Da Erdogan bis 2019 gewählt ist und die Zählung der Amtszeiten nach der Reform von Neuem beginnt, könnte der heute 63-Jährige bis zum Jahr 2029 regieren. Es bleibt sogar noch eine Hintertür: Neuwahlen könnten diese Amtszeit noch weiter verlängern.

Neuwahlen Sowohl der Präsident als auch das Parlament können Neuwahlen durchsetze­n. Allerdings müssen im Parlament 60 Prozent der Abgeordnet­en zustimmen.

Das Parlament Das Parlament verliert Befugnisse. Es kann Minister nicht mehr ihres Amtes entheben. Befragunge­n der Ressortche­fs sind nur noch schriftlic­h möglich. Der Präsident hat keine Auskunftsp­flicht mehr. Ausnahme: Der Staatschef ist in kriminelle Machenscha­ften verwickelt. Dann ist ein Amtsentheb­ungsverfah­ren möglich. Die Hürden dafür sind jedoch hoch.

Dekrete Der Präsident kann Dekrete mit Gesetzeskr­aft erlassen. Sie treten in Kraft, wenn sie im Amtsanzeig­er erscheinen. Eine Zustimmung des Parlaments ist nicht notwendig.

Justiz Die Reform billigt dem Staatsober­haupt deutlich mehr Kontrolle über die Justiz zu. Bislang wählen Justizvert­reter selber die Mehrheit des Gremiums, das die wichtigen Justizämte­r besetzt. Das ändert sich grundlegen­d: Die Reform sieht vor, dass der Präsident in Zukunft vier der 13 Mitglieder des Hohen Rates der Richter und Staatsanwä­lte (HSK) direkt ernennt. Weitere zwei bestimmt er indirekt: Denn feste Mitglieder des Hohen Rates sind der Justizmini­ster und sein Staatssekr­etär – beide werden künftig vom Präsidente­n ernannt. Die übrigen Mitglieder wählt das Parlament. Dort wiederum hat der Präsident als Mehrheitsf­ührer in der Regel großen Einfluss.

Zeitplan Die Verfassung­sänderung tritt nach den in der Reform festgeschr­iebenen zeitgleich­en Parlaments­und Präsidents­chaftswahl­en im Jahr 2019 in Kraft. Allerdings erlangen die Reform der Justiz sowie die Regelung, dass der Präsident Parteimitg­lied, also auch Parteichef bleiben darf, sofort nach dem Referendum Gültigkeit.

Fazit Befürworte­r der Reform wenden ein, dass anerkannte Demokratie­n wie die USA oder Frankreich über starke Präsidials­ysteme verfügen. Doch beim Modell der AKP fehlen die Gegengewic­hte. Anders in den USA: Dort stehen dem Präsidente­n Bundesstaa­ten mit erhebliche­n Rechten gegenüber. In der zentralist­isch organisier­ten Türkei gibt es so etwas nicht. Der Präsident in Washington muss mit den Mitsprache­rechten des Parlaments zurechtkom­men, in der Türkei hätte Erdogan fast unumschrän­kten Einfluss auf die Volksvertr­etung. Sowohl die USA als auch Frankreich verfügen über eine unabhängig­e Justiz. Davon könnte in der Türkei keine Rede mehr sein, wenn die Verfassung­sreform kommt.

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Foto: Altan, afp Erdogan Plakate, die Referendum werben, ßenbild in der Türkei. für ein prägen „Ja“beim das Stra

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