Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Worüber die Türken abstimmen
Hintergrund Das Präsidialsystem würde Erdogans Stellung deutlich stärken. Aber das ist längst nicht alles
Istanbul/augsburg Glaubt man dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan und seiner Regierungspartei AKP, dann ist es ein Wunder, dass in der Türkei überhaupt noch etwas funktioniert. Nur im heftigen Kampf gegen das bestehende System habe seine Regierung in den vergangenen 14 Jahren ihre Vorstellungen durchsetzen und der Türkei Wohlstand und neues Ansehen bescheren können. Erdogan ruft die Türken dazu auf, der Umwandlung des bestehenden parlamentarischen Systems in eine Präsidialrepublik zuzustimmen. Sonst drohe gefährliche Instabilität. Kritiker hingegen warnen vor einem Marsch in die Diktatur.
Was sich ändert, wenn es am Sonntag eine Mehrheit für die Reform der Verfassung gibt:
Der Präsident Der Präsident hatte bisher laut der Verfassung vorwiegend repräsentative Funktionen – vergleichbar mit der Stellung des deutschen Bundespräsidenten. Erdogans Vorgänger hielten sich an diese Vorgabe. Doch der frühere Ministerpräsident Erdogan dachte gar nicht daran, sich aus den Regierungsgeschäften herauszuhalten, als er das Amt übernahm. Er blieb ohne Zweifel faktisch der mit Abstand mächtigste Mann im Staat. Seit der Ausrufung des Ausnahmezustands im August 2016 regiert er mit Notstandsgesetzen. Jetzt soll die Verfassung seinen Vorstellungen angepasst werden: Der Präsident wird Chef der Exekutive, das Amt des Ministerpräsidenten fällt weg. Künftig leitet der Präsident das Kabinett und wählt die Minister aus – eine Zustimmung des Parlaments ist dafür nicht mehr nötig. Anders als bisher kann der Präsident auch seine Parteizugehörigkeit behalten und sogar als Parteichef fungieren.
Amtsdauer des Staatschefs Der Präsident wird für höchstens zwei jeweils fünfjährige Amtsperioden gewählt. Da Erdogan bis 2019 gewählt ist und die Zählung der Amtszeiten nach der Reform von Neuem beginnt, könnte der heute 63-Jährige bis zum Jahr 2029 regieren. Es bleibt sogar noch eine Hintertür: Neuwahlen könnten diese Amtszeit noch weiter verlängern.
Neuwahlen Sowohl der Präsident als auch das Parlament können Neuwahlen durchsetzen. Allerdings müssen im Parlament 60 Prozent der Abgeordneten zustimmen.
Das Parlament Das Parlament verliert Befugnisse. Es kann Minister nicht mehr ihres Amtes entheben. Befragungen der Ressortchefs sind nur noch schriftlich möglich. Der Präsident hat keine Auskunftspflicht mehr. Ausnahme: Der Staatschef ist in kriminelle Machenschaften verwickelt. Dann ist ein Amtsenthebungsverfahren möglich. Die Hürden dafür sind jedoch hoch.
Dekrete Der Präsident kann Dekrete mit Gesetzeskraft erlassen. Sie treten in Kraft, wenn sie im Amtsanzeiger erscheinen. Eine Zustimmung des Parlaments ist nicht notwendig.
Justiz Die Reform billigt dem Staatsoberhaupt deutlich mehr Kontrolle über die Justiz zu. Bislang wählen Justizvertreter selber die Mehrheit des Gremiums, das die wichtigen Justizämter besetzt. Das ändert sich grundlegend: Die Reform sieht vor, dass der Präsident in Zukunft vier der 13 Mitglieder des Hohen Rates der Richter und Staatsanwälte (HSK) direkt ernennt. Weitere zwei bestimmt er indirekt: Denn feste Mitglieder des Hohen Rates sind der Justizminister und sein Staatssekretär – beide werden künftig vom Präsidenten ernannt. Die übrigen Mitglieder wählt das Parlament. Dort wiederum hat der Präsident als Mehrheitsführer in der Regel großen Einfluss.
Zeitplan Die Verfassungsänderung tritt nach den in der Reform festgeschriebenen zeitgleichen Parlamentsund Präsidentschaftswahlen im Jahr 2019 in Kraft. Allerdings erlangen die Reform der Justiz sowie die Regelung, dass der Präsident Parteimitglied, also auch Parteichef bleiben darf, sofort nach dem Referendum Gültigkeit.
Fazit Befürworter der Reform wenden ein, dass anerkannte Demokratien wie die USA oder Frankreich über starke Präsidialsysteme verfügen. Doch beim Modell der AKP fehlen die Gegengewichte. Anders in den USA: Dort stehen dem Präsidenten Bundesstaaten mit erheblichen Rechten gegenüber. In der zentralistisch organisierten Türkei gibt es so etwas nicht. Der Präsident in Washington muss mit den Mitspracherechten des Parlaments zurechtkommen, in der Türkei hätte Erdogan fast unumschränkten Einfluss auf die Volksvertretung. Sowohl die USA als auch Frankreich verfügen über eine unabhängige Justiz. Davon könnte in der Türkei keine Rede mehr sein, wenn die Verfassungsreform kommt.