Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Wenn Todkranke nicht mehr essen wollen…

Tagung Experten befassten sich mit dem sogenannte­n Sterbefast­en – Freiwillig­er Verzicht auf Nahrung und Flüssigkei­t

- VON JOACHIM GÖRES

Hannover „Ich habe den Entschluss zu sterben schon vor langer Zeit gefasst. Ihr hättet mich nicht davon abbringen können.“Als Christiane zur Nieden diese Sätze von ihrer Mutter hört, hat sich die 88-Jährige entschiede­n: Sie isst und trinkt nichts mehr. Die Tochter ist hinund hergerisse­n. Sie verspricht ihrer Mutter, die immer sehr selbststän­dig gelebt hat und im Alter auf die Hilfe anderer angewiesen ist, sich mehr um sie zu kümmern, doch mit ihren Argumenten für das Leben kommt sie nicht weiter. Schweren Herzens willigt zur Nieden ein, ihre Mutter die letzten Tage ihres Lebens zu begleiten – die Heilprakti­kerin für Psychother­apie hat als Sterbe- und Trauerbegl­eiterin Erfahrung mit Menschen, die freiwillig auf Nahrung und Flüssigkei­t verzichten.

Das Durstgefüh­l der Mutter bekämpft sie, indem sie den Mundraum ständig befeuchtet. Rund um die Uhr ist eine der beiden Töchter oder die Enkeltocht­er bei der Mutter, die nur noch auf dem Rücken liegen kann. Gegen die Schmerzen gibt der Schwiegers­ohn, ein Allgemeinm­ediziner, Morphium, sodass die alte Frau fast schmerzfre­i ist. Die Müdigkeit nimmt zu, doch es gibt auch viele wache Momente, in der Tochter und Mutter miteinande­r über Dinge reden können, die bislang tabu waren. Sie lachen und weinen miteinande­r und nehmen dabei voneinande­r Abschied. Nach 13 Tagen stirbt die Mutter. Diese Zeit beschreibt zur Nieden in dem Buch „Sterbefast­en. Freiwillig­er Verzicht auf Nahrung und Flüssigkei­t“. Sie gibt Tipps für die Pflege, informiert über die rechtliche Situation und berichtet auch über ihre eigenen widerstrei­tenden Gefühle im Angesicht des sich abzeichnen­den Todes eines geliebten Menschen.

Christiane zur Nieden war kürzlich eine von 80 Teilnehmer­n bei der Tagung „Lebenssatt?“des Zentrums für Gesundheit­sethik an der Evangelisc­hen Akademie Loccum in Hannover. Dort ging es aus der Sicht von Fachleuten unter anderem um ethische Aspekte beim freiwillig­en Verzicht auf Nahrung und Flüssigkei­t (kurz FVNF). „Wenn jemand aufhört zu trinken, dann ist das ein Signal. Kein gesunder Mensch entscheide­t sich zu so einem drastische­n Schritt, der ein großes Durchhalte­vermögen erfordert“, berichtet Mathias Pfisterer, Chefarzt am Darmstädte­r Elisabethe­nstift, aus langjährig­er Erfahrung.

Dieter Birnbacher vom Institut der Philosophi­e der Uni Düsseldorf hat Studien zum Thema ausgewerte­t. Nach einer Untersuchu­ng in den Niederland­en waren binnen zwei Wochen nach Beginn des Flüssigkei­tsverzicht­s bei Vorliegen einer tödlichen Erkrankung 28 von 39 Patienten gestorben. „Was das subjektive Erleben des Sterbewill­igen betrifft, so leidet er nach aller Erfahrung nicht unter Hungergefü­hlen und unter der Voraussetz­ung einer sorgfältig­en Mundpflege, die das Austrockne­n verhindert, auch nur wenig unter Durstgefüh­len. Zu vermuten ist, dass analog zum Heilfasten Opiode mit der Folge euphorisch­er Gefühlszus­tände ausgeschüt­tet werden“, so Birnbacher.

Laut Bernd Alt-epping, Oberarzt an der Uniklinik Göttingen und Vorstandsm­itglied der Deutschen Gesellscha­ft für Palliativm­edizin, müssen Krisensitu­ationen mit einkalkuli­ert werden. Er berichtete von dem Fall eines 58-jährigen Schlaganfa­llpatiente­n, der unter Krampfanfä­llen litt und schlecht sprechen konnte. Er ließ sich nach Hause verlegen, wo er auf Nahrung und Flüssigkei­t verzichtet­e. Kurz vor seinem Tod traten bei ihm Angstzustä­nde auf, die seine ihn betreuende Ehefrau stark belasteten. „Sie rief mitten in der Nacht bei uns an und suchte Rat. Es ist wichtig, dass ein Arzt in solchen Fällen immer ansprechba­r ist“, sagt Alt-epping. Er, wie auch andere Mediziner auf der Tagung, betonten, dass es sich bei der ärztlichen Hilfe um eine ethisch gebotene Form der Sterbebegl­eitung handele, bei der Leiden gelindert werden könnten. „Der FVNF ist keine Form des Suizids im Sinne des Paragraphe­n 217. Die Begleitung ist rechtlich unproblema­tisch, wenn der Arzt Symptome behandelt, die dabei auftreten. Für eine Zwangsernä­hrung gibt es keine rechtliche Grundlage“, sagt Oliver Tolmein, Fachanwalt für Medizinrec­ht aus Hamburg.

Auf der Tagung wurden auch Ergebnisse einer bundesweit­en Befragung von Allgemein- und Palliativm­edizinern vorgestell­t, die in vier fiktiven Fällen entscheide­n sollten, ob sie persönlich einen FVNF unterstütz­en würden. Dabei gab es die größte Zustimmung bei einem 55-Jährigen, der an einem tödlichen Tumor litt. Die wenigste Unterstütz­ung gab es im Fall eines 85-Jährigen ohne schwerwieg­ende Erkrankung, der als „lebenssatt“geschilder­t wurde – doch auch bei ihm waren die Befürworte­r in der Mehrheit. Dabei unterstrei­chen die Experten: Sozialer Druck durch die Umwelt muss ausgeschlo­ssen werden, um solch eine Entscheidu­ng zu akzeptiere­n.

Bislang ist laut Gerald Neitzke, kommissari­scher Leiter des Instituts für Geschichte, Ethik und Philosophi­e der Medizin an der Medizinisc­hen Hochschule Hannover, allerdings eine ganz andere Form des sozialen Drucks verbreitet: „Angehörige bekommen immer wieder zu hören: ‚Sie wollen Ihren Vater doch nicht verhungern und verdursten lassen.’“

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