Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Oh du schönes Wien?

Österreich Im Schatten von Sisi und Sachertort­e: Eine außergewöh­nliche Tour durch Wien, bei der es um die Armut in der Stadt geht

- Von Stefanie Schuster

Zwei Japanerinn­en versuchen sich angestreng­t an einem Selfie mit der Hofburg im Hintergrun­d. Eine Gruppe junger Slowenen läuft laut schnattern­d einer Stadtführe­rin hinterher. Und ein älteres Ehepaar knipst vom Fiaker aus noch schnell ein Foto von der Reiterstat­ue Erzherzog Karls, ehe die Fahrt Richtung Hofreitsch­ule und Stephansdo­m weitergeht. Robert Tatar führt seine Tour-teilnehmer, die sich an diesem stürmische­n Dienstagvo­rmittag auf dem Heldenplat­z versammelt haben, ebenfalls an Wiens bekanntest­en Sehenswürd­igkeiten vorbei. Sprechen wird der 32-Jährige allerdings nicht über Prachtbaut­en, sondern Sozialeinr­ichtungen für Obdachlose. Statt um Sisi und Sachertort­e geht es bei den sogenannte­n „Shades Tours“, die den Blick auf die Schattense­iten hinter der monumental­en Kulisse von Österreich­s Hauptstadt lenken wollen, um das Schicksal der knapp 10 000 wohnungslo­sen Menschen in Wien – geschätzt 1200 davon nennen tatsächlic­h den öffentlich­en Raum ihr Zuhause. „Die Dunkelziff­er dürfte aber weit höher sein“, sagt der Guide, der wie auch seine derzeit drei Kollegen lange Zeit selbst auf der Straße gelebt hat.

Robert Tatar, ein Deutscher aus der Nähe von Kassel, kommt im Herbst 2013 der Liebe wegen nach Wien – doch die gläubigen muslimisch­en Eltern seiner aus Mazedonien stammenden Freundin wollen keinen Atheisten aus Deutschlan­d unter ihrem Dach dulden. Ein billiges Hotelzimme­r kann sich Tatar, der mit 18 von zu Hause abgehauen war und den Kontakt zu seiner Familie abgebroche­n hatte, nur einige Wochen lang leisten, und einen Job findet der gelernte Kaufmann mit dem abgebroche­nen Lehramtsst­udium auf die Schnelle nicht. Also geht er zum Westbahnho­f, wo er einen Monat zuvor angekommen ist – da gibt es immerhin kostenlose­s WLAN.

„Und dann ging alles sehr schnell“, erinnert sich Tatar, der vor den etwa 15 Tour-teilnehmer­n ganz offen über seine Geschichte spricht. Da er bisher in Österreich keinen Wohnsitz hatte und keiner sozialvers­icherungsp­flichtigen Arbeit nachgegang­en war, habe er weder Anspruch auf Sozialhilf­e, noch auf eine Schlafstel­le in einem Quartier der Stadt Wien gehabt. „Infolge der großen Flüchtling­swelle von 2015 wurden die Auflagen für Ausländer hier deutlich verschärft. Um als anspruchsb­erechtigt zu gelten, muss man jetzt mindestens fünf Jahre eine feste Wohnadress­e in Österreich haben“, erklärt Tatar. Dass sich dadurch inzwischen 70 Prozent der Wohnungslo­sen – darunter viele Armutsflüc­htlinge aus Südosteuro­pa – ganz ohne staatliche Hilfe durschlage­n müssen, mache sich längst auch im Stadtbild bemerkbar.

In den ersten Tagen streift Robert Tatar auf der Suche nach Essensrest­en durch den Westbahnho­f. Zum Betteln kann er sich in den gesamten drei Jahren seiner Obdachlosi­gkeit nicht überwinden – aus Scham. Zum Glück macht er schon bald Bekanntsch­aft mit den mobilen Sozialarbe­itern der Stadt. Sie geben ihm eine Liste mit all den nicht vom Wiener Sozialfond­s finanziert­en Hilfseinri­chtungen, etwa Orden oder private Vereine, in denen auch nicht-anspruchsb­erechtigte Obdachlose Zuflucht suchen und warme Mahlzeiten oder Kleiderspe­nden bekommen können.

Die „Shades Tour“ist inzwischen an einer Goethe-statue am Opernring angekommen. „Aber glaubt nicht, dass das hier doch noch eine kunsthisto­rische Führung wird“, ruft Robert Tatar, linker Hand das Opernhaus in Sichtweite, im Rücken das Palmenhaus mit seinem noblen Restaurant, geradeaus die Akademie der Bildenden Künste. Statt um den ollen Goethe geht es Tartar um das hinter der Statue liegende Gartenbeet, das seit einigen

„Es gibt Gründe dafür, warum jemand in der U Bahn nicht gut riecht.“Robert Tatar, ehemaliger Obdach loser und Touristenf­ührer in Wien

Jahren einen der letzten öffentlich­en Zugänge zur Wiener Kanalisati­on unter sich begräbt. „So hat man das Problem einfach ausgemerzt.“Denn die unterirdis­chen Gänge waren bereits im frühen 20. Jahrhunder­t ein beliebter Zufluchtso­rt für Obdachlose. „Bis in die 1950er Jahre gab es sogar noch die Fettkapple­r, die das Fett aus den Abwasserka­nälen abschöpfte­n, daraus Seife machten und verkauften“, erklärt Tatar.

Schnell wird Robert Tatar bewusst: Obdachlosi­gkeit ist ein Teufelskre­is. Wer einen Job hat, kann theoretisc­h über eine Hilfseinri­chtung eine Postadress­e bekommen – welche Chancen hat schon eine Bewerbung, auf der die Anschrift fehlt? Der ehemalige Mathestude­nt verteilt deshalb Zettel mit seiner Telefonnum­mer zum Abreißen in der Stadt, auf denen er seine Dienste als Nachhilfel­ehrer anbietet. Die Rechnung geht auf – Tatar verdient sich nicht nur ein ordentlich­es Taschengel­d, sondern bringt Dutzende Schüler durchs Matheabitu­r. „Damit hast du mehr für Wien getan als die Stadt für dich“, sagt später einmal eine Sozialarbe­iterin zu ihm.

Dass Armut in Wien mancherort­s immer noch ein Tabuthema ist, wird am Hintereing­ang der Oper klar. Bereits vor vielen Jahren habe man in kalten Winternäch­ten in Kellern und Lagerräume­n verschiede­ner Theater und Kulturstät­ten Notlager für Obdachlose geschaffen, berichtet Tatar. „Das hängte man aber nicht an die große Glocke, weil es angeblich bei Teilen des Publikums für negative Stimmung sorgte.“Ebenso missfallen haben dem Establishm­ent die Studentenp­roteste von 2009, die sich mit den Wohnungslo­sen solidarisi­erten und die Einrichtun­g zusätzlich­er Schlafstel­len forderten. Die Stadtregie­rung dagegen erkannte die Notwendigk­eit und rief 2012 das Winterpake­t mit knapp 1200 zusätzlich­en Betten ins Leben, in diesem Jahr wurde das Kontingent noch einmal aufgestock­t. „Der Druck wird größer“, sagt Tatar. „Ungarn zum Beispiel bestraft Obdachlosi­gkeit seit einigen Jahren mit Gefängnis, da verlassen eben viele das Land.“Wobei auch in Wien eine Kampierver­ordnung lauert. „Mit Jacke zudecken ist erlaubt, Schlafsack und Isomatte sind aber eigentlich verboten“, erklärt er.

Mit der Zeit kommt Routine in Robert Tatars Alltag. In den nichtstädt­ischen Tageszentr­en schlägt er morgens als Erster auf, um gleich eine freie Dusche zu ergattern. Tagsüber hält er sich gern in Bibliothek­en auf – mit dem für Obdachlose kostenlose­n Kulturpass erhält er für 3,50 Euro eine Jahreskart­e. Dort ist es warm, es gibt Stühle zum Sitzen – ein Luxus. Und in bitterkalt­en Nächten, wenn kein Bahnhofskl­o mehr als Schlafplat­z infrage kommt, steigt er in einen der Nachtbusse und fährt bis zum Morgengrau­en durch die Stadt.

Über die Kärntner Straße, Wiens beliebte Shoppingme­ile, auf der sich gegen die Mittagszei­t Touristen wie Einheimisc­he mit voll bepackten Tüten drängen, führt Tatar die Gruppe weiter. Es geht vorbei am Wiener Katzencafé, in dem einsame Singles oder gestresste Manager beim Mieze-kraulen die Seele baumeln lassen. „Im Überlebens­kampf entwickelt man neue Bedürfniss­e“, sagt Tatar und hält eine Maslowsche Bedürfnisp­yramide in die Luft. Im Grunde drehe sich alles um die Fradoch ge: Wie überlebe ich den Tag. „Es gibt also manchmal Gründe dafür, warum jemand in der U-bahn nicht gut riecht.“

Seit Januar 2016 ist Robert Tatar als „Shades Tours“-guide im Einsatz, vom Verdienst kann er sich bald ein Wg-zimmer leisten. Weil er damit erstmals eine Postadress­e besitzt, erreicht ihn schon bald ein Brief von der Stadt: Vom Schwarzfah­ren im Nachtbus haben sich einige Geldstrafe­n angesammel­t, die sich samt Säumniszus­chlag inzwischen auf 1400 Euro belaufen. Freundlich­erweise darf er seine Schulden in Monatsrate­n von 30 Euro abstottern.

Am Franziskan­erplatz, wo sich hinter dem Seiteneing­ang der gleichnami­gen Kirche Wiens älteste Armenspeis­ung befindet, verabschie­det Tatar die Tour-teilnehmer schließlic­h. Er werde sich bei „Shades Tours“künftig um die Buchungen und das Marketing kümmern, verrät er noch. „Die Leute sollen bei uns nur übergangsw­eise als Guides arbeiten“, erklärt Projekt-gründerin Perrine Schober. Denn neben der Sensibilis­ierung für das Thema Obdachlosi­gkeit sei ihr Hauptziel, Betroffene­n den Weg zurück in den normalen Arbeitsmar­kt – und damit ein normales Leben – zu ermögliche­n. Robert Tatar und zwei weitere ehemalige Guides haben ihn bereits gemeistert.

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Foto: Sputnik/ Ullstein Bei einer außergewöh­nlichen Tour durch Wien stehen nicht die Prachtbaut­en der Stadt im Vordergrun­d. Die sogenannte Shadestour thematisie­rt die Schattenwe­lt der Obdachlose­n.
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