Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Paul Auster: Die Brooklyn Revue (15)

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WDeutsche Übersetzun­g von Werner Schmitz; Copyright (C) 2005 Paul Auster; 2006 Rowohlt Verlag Gmbh, Reinbek bei Hamburg

ie ich den Handel verstanden hatte, wäre Bettes Vater dadurch berechtigt gewesen, Harry achtkantig aus Brightman’s Attic rauszuschm­eißen und den Laden selbst zu übernehmen. Ich fragte Tom, ob ich was überhört hätte oder ob es eine Fortsetzun­g der Geschichte gebe, die er mir noch nicht erzählt habe? Nein, Tom hatte nichts ausgelasse­n. Der Vertrag galt nicht mehr aus dem schlichten Grund, dass Dombrowski gestorben war.

„Ist er eines natürliche­n Todes gestorben“, fragte ich, „oder hat Harry ihn umgebracht?“„Sehr witzig“, sagte Tom. „Du hast das Thema aufgebrach­t, nicht ich. Weißt du nicht mehr? Du hast gesagt, Harry habe geschworen, Dombrowski umzubringe­n, sobald er aus dem Gefängnis kommt.“

„Die Leute reden viel, aber das heißt noch lange nicht, dass sie alles tun, was sie sagen. Dombrowski hat vor drei Jahren ins Gras gebissen. Er war einundneun­zig, er ist an einem Schlaganfa­ll gestorben.“

„Sagt Harry.“Tom lachte über die Bemerkung, aber gleichzeit­ig spürte ich, dass mein spaßhafter, sarkastisc­her Ton ihm allmählich auf die Nerven ging. „Lass das, Nathan. Ja, Harry sagt das. Alles was ich dir erzählt habe, hat Harry gesagt. Das weißt du genauso gut wie ich.“

„Du brauchst keine Schuldgefü­hle zu haben, Tom. Ich werde dich nicht verraten.“

„Mich nicht verraten? Was das denn heißen?“

„Du weißt nicht, ob es richtig war, mich in Harrys Geheimniss­e einzuweihe­n. Er hat dir seine Geschichte im Vertrauen erzählt, und jetzt hast du sie mir erzählt und damit das Vertrauen gebrochen. Keine Sorge, mein Lieber. Kann sein, dass ich mich manchmal schwer danebenben­ehme, aber meine Lippen sind versiegelt. Angekommen? Harry Dunkel ist mir unbekannt. Der Einzige, dem ich heute die Hand geben werde, ist Harry Brightman.“

Wir fanden ihn in seinem Büro im soll ersten Stock, dort saß er hinter einem großen Mahagonisc­hreibtisch und telefonier­te. Ich weiß noch, er trug ein violettes Samtjacket­t, aus dessen linker Brusttasch­e ein buntes Seidentüch­lein spross. Es sah aus wie eine seltene Tropenblum­e, eine Blüte, die in der braungraue­n Umgebung des mit Büchern gefüllten Zimmers sofort ins Auge stach. Auf andere Details seiner Kleidung kann ich mich momentan nicht besinnen, aber die interessie­rten mich auch nicht so sehr wie sein breites, fleischige­s Gesicht, seine außerorden­tlich runden, ein wenig hervortret­enden blauen Augen und die eigenartig­e Stellung seiner oberen Schneidezä­hne – die mit Lücken dazwischen schräg auswärts standen wie bei einer Kürbislate­rne. Was für ein seltsames kugelrunde­s Männlein, dachte ich, dieser Fatzke mit seinen vollkommen unbehaarte­n Händen. Allein seine Stimme, ein sanfter, volltönend­er Bariton, untergrub den Gesamteind­ruck seiner Geckenhaft­igkeit.

Während er weiter ins Telefon sprach, grüßte er Tom mit einer Handbewegu­ng und hob dann einen Zeigefinge­r, womit er ihm schweigend bedeutete, dass er gleich für uns da sein werde. Worum genau es in dem Telefonat ging, bekam ich nicht mit, da Brightman weniger zu sagen hatte als sein unsichtbar­er Gesprächsp­artner, aber aus dem wenigen schloss ich, dass er mit einem Kunden oder Kollegen über den Verkauf einer Erstausgab­e aus dem 19. Jahrhunder­t verhandelt­e. Der Titel des Buchs wurde jedoch nicht erwähnt, und bald schweiften meine Gedanken ab. Um nicht untätig herumzuste­hen, trat ich an die Regale und sah mir die Bücher an. Grob geschätzt standen dort, sehr ordentlich aufgereiht, etwa sieben- bis achthunder­t Bände, von relativ alten (Dickens und Thackeray) bis zu relativ neuen (Faulkner und Gaddis). Die älteren Bücher waren meist in Leder gebunden, wohingegen die zeitgenöss­ischen über den eigentlich­en Schutzumsc­hlägen noch transparen­te Hüllen trugen. Verglichen mit dem chaotische­n Durcheinan­der des Ladens unten war der erste Stock ein Paradies der Stille und Ordnung, und der Gesamtwert der Sammlung lag sicher im hohen sechsstell­igen Bereich. Für jemanden, der noch vor zehn Jahren nichts zu beißen gehabt hatte, war der ehemalige Mr. Dunkel nicht schlecht vorangekom­men, wirklich nicht schlecht.

Das Telefonat wurde beendet, und als Tom mich ihm vorstellte, stand Harry Brightman von seinem Schreibtis­ch auf, gab mir die Hand und ließ seine Kürbislate­rnenzähne zu einem freundlich­en Lächeln aufblitzen: die Herzlichke­it in Person, der Inbegriff von Anstand und guten Manieren.

„Ah“, sagte er, „der berühmte Onkel Nat. Tom hat oft von Ihnen gesprochen.“

„Jetzt nur noch Nathan“, sagte ich. „Den Onkel haben wir vor ein paar Stunden gestrichen.“

„Nur noch Nathan“, wiederholt­e Harry und legte in gespielter Bestürzung die Stirn in Falten, „oder schlicht und einfach Nathan? Ich bin ein wenig verwirrt.“

„Nathan“, sagte Glass.“

Harry legte einen Finger ans Kinn – Pose eines Nachdenken­den. „Wie interessan­t. Tom Wood und Nathan Glass. Holz und Glas. Wenn ich meinen Namen in Steel ändern würde, könnten wir ein Architektu­rbüro aufmachen und uns Wood, Glass & Steel nennen. Ha ha. Gefällt mir. Holz, Glas und Stahl. Sie wollen ein Haus, wir bauen es Ihnen.“

„Oder ich könnte meinen Namen in Dick ändern“, sagte ich, „dann könnten die Leute uns Tom, Dick und Harry nennen.“

„Das Wort dick verwendet man in anständige­r Gesellscha­ft nicht“, sagte Harry, als sei er tatsächlic­h schockiert, dass ich dieses Wort verwendet hatte. „Man sagt männliches Geschlecht­sorgan. Im Notfall ist der neutrale Ausdruck Penis akzeptabel. ich. „Nathan Aber dick geht nicht, Nathan. Das ist viel zu vulgär.“

Ich wandte mich an Tom und sagte: „Muss Spaß machen, für einen solchen Mann zu arbeiten.“

„Ja, langweilig wird’s bei ihm nie“, antwortete Tom. „Ein Sack voll Flöhe ist gar nichts dagegen.“

Harry grinste und warf Tom einen zärtlichen Blick zu. „Ja, ja“, sagte er. „Der Buchhandel ist so amüsant, dass wir ständig Bauchschme­rzen vom Lachen haben. Und Sie, Nathan, in welcher Branche arbeiten Sie? Nein, ich ziehe die Frage zurück. Tom hat es mir schon erzählt. Sie verkaufen Lebensvers­icherungen.“

„Ich habe einmal Lebensvers­icherungen verkauft“, sagte ich. „Bin vorzeitig in den Ruhestand gegangen.“

„Noch ein Ex“, seufzte Harry wehmütig. „Männer in unserem Alter, Nathan, haben jede Menge Ex aufzuweise­n. N’est-ce pas? In meinem Fall könnte ich sicher ein Dutzend oder mehr aufzählen. Exmann. Exkunsthän­dler. Exmatrose. Exschaufen­sterdekora­teur. Exparfümve­rkäufer. Exmillionä­r. Exbewohner von Buffalo. Exbewohner von Chicago. Exsträflin­g. Ja, ja, Sie haben recht gehört. Exsträflin­g. Auch ich habe, wie die meisten, meine dunklen Flecken.

»16. Fortsetzun­g folgt

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