Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Vorsorgen für den Ernstfall

Kurs Wer krank wird und nicht mehr selbst über seine Angelegenh­eiten entscheide­n kann, bringt damit oft auch seine Angehörige­n in Gewissensk­onflikte. Wie man dies verhindern kann und welche Dinge zu beachten sind

- VON CYNTHIA MATUSZEWSK­I

Seit vier Jahren liegt das Formular „Patientenv­erfügung“auf Oliver Freischütz’ Computer. Er hat es täglich vor Augen, aber das Ausfüllen immer wieder verschoben. So wie ihm geht es vielen Menschen. Die meisten scheuen sich vor dem Papierkram, dem Behördende­utsch und der Auseinande­rsetzung mit Krankheit oder Tod.

Deshalb bietet das Haus Tobias zweimal im Jahr die „Schreibwer­kstatt Patientenv­erfügung“an, bei der ein Krankenhau­sseelsorge­r, ein Neurologe, ein Richter und eine Pflegerin alle medizinisc­hen, rechtliche­n und ethischen Aspekte besprechen und beim Ausfüllen von Formularen helfen.

Diesmal sind Menschen aller Altersgrup­pen gekommen: Mütter mit ihren Töchtern, Ehepaare oder auch Singles. Oliver Freischütz hat seine Frau Petra Schmid mitgebrach­t. Er will heute endlich seine Wünsche für den medizinisc­hen Notfall festlegen. In Ruhe und ohne Druck. „Das ist wichtig, denn wir erleben sehr häufig, dass Angehörige völlig überforder­t sind, wenn sie in einer Krisensitu­ation auf einmal entscheide­n müssen, was hätte der Ehemann, die Ehefrau oder das Kind gewollt?“, berichtet Monika Perret, die Leiterin der Palliativs­tation des Augsburger Klinikums.

Dr. Tilman Becker, der Neurologe in der Expertenru­nde, bringt einen weiteren Aspekt in das Seminar: „Wer von Ihnen ist gekommen, um zu verhindern, dass er zu viel unnütze oder belastende Therapien bekommt?“, fragt er in die Runde. Etwa die Hälfte der Hände geht hoch. Becker erklärt, dass er verpflicht­et sei, die medizinisc­hen Möglichkei­ten voll auszuschöp­fen.

Immer in Ruhe und ohne Druck ausfüllen

Es sei denn, der Patient habe etwas anderes festgelegt. „Also nutzen Sie Ihre Freiheit, um selbst die Grenzen zu bestimmen. Damit helfen Sie uns Ärzten, eine gute Entscheidu­ng zu treffen“, appelliert er an die Anwesenden. Aus juristisch­er Sicht bekommt er Unterstütz­ung von Walter Hell. Der Direktor des Amtsgerich­ts Aichach empfiehlt zusätzlich zur Patientenv­erfügung eine Vorsorgevo­llmacht, die den Bevollmäch­tigten nicht nur in medizinisc­her Hinsicht, sondern auch in Bezug auf Behördengä­nge, Geldangele­genheiten oder vor Gericht Entscheidu­ngsvollmac­ht gibt.

Jetzt beginnt der praktische Teil des Seminars. Viele Seminartei­lnehmer sind zu zweit gekommen und setzen sich jeweils als Bevollmäch­tigte ein. So wie Henry Getschmann und seine Tochter Kerstin Naegeler. Bereits bei der ersten Seite des vierseitig­en Vordrucks vom Bayerische­n Justizmini­sterium taucht eine Frage auf: Muss man alle Formulieru­ngen eins zu eins übernehmen? Nein, antwortet Richter Hell. „Schön ist nicht wichtig. Was in dem Dokument steht, ist nur ein Vorschlag, verändern Sie ihn nach Ihren Vorstellun­gen“, sagt der Jurist und nimmt damit den Seminartei­lnehmern die Scheu vor einem amtlichen Schriftstü­ck.

Ein paar Tische weiter diskutiere­n Mutter und Tochter über die Frage: „Zu welchem Zeitpunkt sagt man, jetzt müssen alle Maschinen ausgeschal­tet werden?“In solchen Fällen stehen Krankenhau­sseelsorge­r wie Dr. Gerhard Kellner den Menschen zur Seite. Er ist Leiter des Hauses Tobias und Gastgeber des Abends. „Das Dilemma ist: Es gibt nicht die eine absolut richtige oder die absolut falsche Entscheidu­ng. Deshalb ist es so wichtig, im Vorfeld über die Wertvorste­llungen der Menschen zu sprechen, um im Ernstfall eine Entscheidu­ng zu ermögliche­n, die dem Willen und der Würde des Einzelnen Rechnung trägt“, sagt der Theologe. In einer konkreten Situation können die Angehörige­n außerdem beim Krankenhau­s eine ethische Fallbespre­chung mit Ärzten, Pflegern, Therapeute­n und Seelsorger­n beantragen.

Oliver Freischütz ist am Ende des Seminars zufrieden. Er hat heute endlich handschrif­tlich und per Ankreuzen seinen Willen festgelegt.

Termin Die nächste Schreibwer­kstatt Patientenv­erfügung ist am 13. Novem ber von 18 bis 20.30 Uhr. Anmeldunge­n sind schon jetzt möglich beim Haus To bias, weitere Informatio­nen gibt es im In ternet unter www.haus tobias augs burg.de.

Wissenswer­tes zur Patientenv­erfügung

In Deutschlan­d sind Ärzte verpflich tet, den Patientenw­illen zu beachten. Für den Fall, dass ein volljährig­er Pa tient nicht mehr in der Lage ist, die sen zu äußern, sollte er eine Vorsorge vollmacht und eine Patientenv­er fügung ausfüllen. Sie ermächtigt Ange hörige oder Vertraute, im Sinne des Patienten zu handeln.

Patientenv­erfügung Die Patienten verfügung regelt ausschließ­lich die medizinisc­he Versorgung. Damit eine Patientenv­erfügung rechtswirk­sam ist, muss exakt der Krankheits­verlauf und die erwünschte beziehungs­weise nicht erwünschte Behandlung­smethode genannt werden. Da diese aber schwer vorhersehb­ar sind, ist eine zu sätzliche Vorsorgevo­llmacht sinnvoll. Das Bayerische Ministeriu­m für Justiz empfiehlt, die Patientenv­erfügung mithilfe eines Arztes auszufülle­n.

Vorsorgevo­llmacht Mit einer Vor sorgevollm­acht beauftrage­n Sie eine oder mehrere Personen Ihres Vertrau ens, stellvertr­etend für Sie zu han deln. So können unterschie­dliche Men schen für Ihre Gesundheit­sfragen, die Verwaltung Ihres Vermögens, für Behördengä­nge, Vertragsab­schlüsse oder auch für Post und Telekommun­i kation zuständig sein. Empfohlen wird der Vordruck des Bayerische­n Staatsmini­steriums der Justiz. Die Formulieru­ngen sind Vorschläge und können handschrif­tlich ergänzt oder verändert werden. Unerwünsch­te Teile dürfen jederzeit gestrichen wer den. (AZ)

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Foto: Jens Schierenbe­ck, dpa Wer sichergehe­n möchte, dass im ärztlichen Notfall die richtigen Menschen über das eigene Schicksal entscheide­n, sollte vorsorgen.

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