Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Vor dem Frühstück eine Flasche Schnaps
Sucht Das Marie-juchacz-zentrum in Kriegshaber öffnete vor zwei Jahren und ist die einzige Einrichtung für Langzeittherapie in Nordschwaben. Jetzt wurde der erste Patient entlassen. Wie es ihm heute geht
Rolf Müller* war ganz unten, als er ins Marie-juchacz-zentrum in Kriegshaber einzog. Mehr als zehn Entgiftungen hatte der Alkoholkranke da schon hinter sich. Die Einrichtung der Arbeiterwohlfahrt war die letzte Chance, sonst wäre er in eine geschlossene Station eingewiesen worden. „Ich wollte hier nicht hin, aber es war das kleinere Übel“, sagt er. Jetzt ist er der erste Bewohner, der die vor zwei Jahren eröffnete Einrichtung wieder verlässt und in einer eigenen Wohnung lebt und einen Job hat.
Im Marie-juchacz-zentrum werden chronisch mehrfachgeschädigte Alkoholabhängige bis zu zwei Jahre betreut. Bei vielen kommen Medikamentenoder Drogenkonsum hinzu. Das Besondere an der Einrichtung ist der lange Zeitraum, den die Abhängigen dort verbringen. „Normale Therapien dauern drei bis sechs Monate. Wer zu uns kommt, kündigt vorher seine Wohnung“, sagt Einrichtungsleiter Michael List. Das bedeutet aber auch, dass die Bewohner bei Rückfällen nicht rausfliegen, sie haben schließlich keine Wohnung mehr. Zweimal am Tag müssen sie pusten und es gibt darüber hinaus unangekündigte Stichproben. Auch Müller hatte einen Rückfall, als sein Vater starb. „Ich war dann immerhin so schlau, mich selbst ins Bezirkskrankenhaus in Kaufbeuren einzuweisen.“
In Kriegshaber arbeiten sie daran, wieder Struktur in die Tagesabläufe zu bringen und die Probleme aufzuarbeiten. Private Probleme waren es auch, wegen denen Müller vor drei Jahren abstürzte. „Meine Frau hat mich betrogen und sich scheiden lassen, und wir mussten das Haus aus finanziellen Gründen verkaufen. Wegen des Alkoholkonsums wurde ich arbeits- und obdachlos.“Die ersten beiden Entgiftungen machte er noch freiwillig, zu den anderen nötigte ihn der Betreuer, der ihm zur Seite gestellt wurde. Damals habe er den Mann gehasst, heute habe er Verständnis für dessen Handeln. „Mir war damals alles egal. Ich brauchte morgens eine Flasche Schnaps, damit ich soweit funktionierte, dass ich mir dann wenigstens einen Kaffee machen konnte.“Vorher seien die Schmerzen und das Zittern aufgrund der Entzugserscheinungen zu groß gewesen.
Müller bekam direkt im An- an einen Aufenthalt im Bezirkskrankenhaus Kaufbeuren einen Platz in Kriegshaber. Dass es so schnell ging, hat er einem glücklichen Umstand zu verdanken. „Der Bezirk Schwaben, der die Kosten trägt, hat damals einer Erweiterung von 25 auf 35 Plätze zugestimmt. Inzwischen sind wir bei sechs Monaten Wartezeit, was für Menschen mit Suchthintergrund ein sehr langer Zeitraum ist“, sagt List. In Nordschwaben mangle es an solchen Langzeitangeboten.
Müller empfand es zunächst allerdings nicht als Glück, dass er dort einziehen sollte. Kontakt zu Mitbewohnern suchte er anfangs nicht und auch gegenüber den Mitarbeitern habe er sich in den ersten drei Monaten „zurückgehalten“, sagt er. Auch sei er enttäuscht gewesen, weil er glaubte, er bekomme hier Hilfe bei der Wohnungs- und Arbeitssuche. Erst mit der Zeit arrangierte er sich mit der Situation. Entscheidenden Anteil daran hatte, dass es in der Einrichtung eine Werkstatt gibt, in der er viel arbeitete. Müller kommt vom Bau. „Es war beeindruckend zu sehen, welche Ressourcen bei ihm noch da sind, wenn er abstinent ist“, so List.
Das ist längst nicht bei allen Patienten so. Bei vielen ist es sehr unwahrscheinlich, dass sie aufgrund der gesundheitlichen Probleme je wieder arbeiten können. Bei ihnen geht es darum, wieder Struktur in den Tag zu bringen. Bei einigen Bewohnern ist es auch klar, dass sie anschließend in eine Pflegeeinrichtung umziehen müssten. Doch die wenigsten Pflegeheime wollen solche Patienten aufnehmen, die Weitervermittlung gestalte sich schwierig, so der Einrichtungsleiter. Das gelte auch für Klienten, die eine Wohnung auf dem angespannten Immoschluss bilienmarkt suchen, berichtet List. „Bei uns leben weitere Personen, die ausziehen dürften.
Müller hatte wieder Glück. Zufällig traf er den Vorarbeiter seiner alten Firma und die beiden kamen ins Gespräch. Nachdem er fünf Tage auf Probe gearbeitet hatte, wurde er wieder fest eingestellt. Der Arbeitgeber besorgte zudem eine Unterkunft. „Eigentlich wollte ich auf keinen Fall zurück in die Gegend, in der alles begonnen hat, aber die Chance, wieder einen Job zu bekommen, musste ich nutzen.“
Wenn er arbeite, gehe es ihm gut, sagt Müller. Schlimm sei vor allem die Zeit, in der er alleine sei. Er habe bis auf einige Verwandte, die er anrufen und besuchen könne, fast keine Kontakte mehr. In diesen einsamen Momenten komme das Bedürfnis, zur Flasche zu greifen, wieder hoch, sagt er. Dann erinnere er sich daran, was er in den 13 Monaten im Marie-juchacz-zentrum geschafft hat und nicht wieder zerstören will. Ein bitterer Beigeschmack bleibt für ihn aber: „Für Viele bleibe ich ein Mensch zweiter Klasse. In den Augen der Meisten bin ich nicht krank, sondern nur ein Säufer.“