Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Nach jahrzehntelangem Streit können auch Homosexuelle in Deutschland heiraten Ein historischer Konfetti Regen Dieses Paar hat Merkel überzeugt
Reportage Am Ende einer denkwürdigen Woche stimmen SPD, Grüne, Linke und 75 Abgeordnete der Union für die „Ehe für alle“. Doch bei vielen in CDU und CSU herrscht großer Unmut Die Zilms kümmern sich um Pflegekinder
Berlin Es ist genau 9.20 Uhr, als es im Bundestag laut knallt. Abgeordnete der Grünen, die sich um Volker Beck in der vierten Reihe des Bundestags geschart haben, halten kleine Konfetti-kanonen in die Höhe und zünden ein Party-feuerwerk, über Beck geht ein Regen aus bunt glitzernden Schnipseln nieder. Die Ermahnung von Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU), es bestehe ein „Verdacht der Albernheit“, kommt zu spät – laut und begeistert feiern die Grünen ihren Vorkämpfer für die Home-ehe, der an seinem letzten Sitzungstag als Abgeordneter einen großen persönlichen Sieg feiert.
Es ist der Tag des Volker Beck. Seit 23 Jahren gehört der bekennende Homosexuelle dem Bundestag an, seit 1994 streitet der 56-Jährige, der sich nach dem Tod seines Lebenspartners Witwer nennt, ebenso konsequent wie unerbittlich für die völlige Gleichstellung von gleichgeschlechtlichen Partnerschaften, im Herbst scheidet er aus dem Bundestag aus. Und, womit er nicht mehr gerechnet hat, in der letzten Sitzung batte deutlich. Fraktionschef Volker Kauder und Csu-landesgruppenchefin Gerda Hasselfeldt lehnen die „Ehe für alle“ab, der Berliner Cdu-abgeordnete Jan-marco Luczak wirbt hingegen für die Annahme des Gesetzentwurfs. Die Ehe zwischen zwei Männern oder zwei Frauen sei „nicht dasselbe“wie die Ehe von Mann und Frau, sagt Kauder, auch Hasselfeldt sagt, „Unvergleichliches ist nun einmal nicht gleich“.
Dagegen argumentiert Luczak, Treue, Beständigkeit und Verlässlichkeit zwischen zwei Menschen seien zutiefst konservative Werte. „Ich kann nicht erkennen, dass das Geschlecht dabei eine Rolle spielt.“Für Misstöne in der Debatte sorgen die aus der Unionsfraktion ausgetretene Erika Steinbach und der Sozialdemokrat Johannes Kahrs, die Angela Merkel persönlich attackieren. „Wir haben keine Kanzlerdemokratie, sondern eine parlamentarische Demokratie“, bemängelt Steinbach bei ihrem letzten Auftritt im Bundestag. Kahrs nennt die Wende von Merkel in einer überaus emotionalen Rede „erbärmlich“und „peinlich“, hätten sie und die Union doch
Zwei Abgeordnete sorgten für Misstöne in der Debatte
seit 2005 die völlige Gleichstellung verhindert. „Es steht mir bis hier. Vielen Dank für nichts.“
Zahlreiche Aktivisten aus der Schwulen- und Lesbenszene verfolgen die Debatte auf den Zuschauerrängen des Bundestags, unter ihnen auch der 28-jährige Ulli Köppe, der am Montagabend mit seiner Frage an die Kanzlerin den Stein ins Rollen brachte. Nach der Abstimmung und der Bekanntgabe des Ergebnisses spielen sich auch hier ergreifende Szenen ab. Pärchen fallen sich in die Arme, küssen und beglückwünschen sich, schießen Selfies mit ihren Smartphones und feiern den historischen Moment.
Spd-umweltministerin Barbara Hendricks macht ihrer Partnerin, mit der sie seit dem 22. Oktober 2010 verpartnert ist, bei einem Auftritt vor dem Brandenburger Tor einen offiziellen Heiratsantrag und kündigt an, sie am siebten Jahrestag heiraten zu wollen. Im Fraktionssaal der SPD schneiden Parteichef Martin Schulz und Fraktionschef Thomas Oppermann eine mehrstöckige Torte in den Regenbogenfarben an. Und am Abend laden die Grünen zur Party unter der Reichstagskuppel. Es darf gefeiert werden, laut und unbeschwert. Barth Seit Sommer 2013 steht die Einladung an Kanzlerin Angela Merkel. Ausgesprochen hat sie Christine Zilm auf dem Marktplatz von Barth nahe der Ostsee in Vorpommern, als sie bei einem Wahlkampfauftritt der Kanzlerin von ihrer Situation als lesbische Frau in einer eingetragenen Lebensgemeinschaft mit mehreren Pflegekindern erzählt hat. Sie könne die Kinder nicht adoptieren, weil sie und ihre Partnerin kein Ehepaar sind.
Christine und Gundula Zilm sind das Paar mit den vielen Pflegekindern, von dem die Kanzlerin sprach, als sie sich am Montagabend für ein Adoptionsrecht Homosexueller aussprach und den Weg für die „Gewissensentscheidung“im Bundestag frei machte. „Wenn wir der Anstoß dafür waren, dass Frau Merkel umdenkt, ist das schon eine tolle Sache“, kommentiert Gundula Zilm die Szene. Ihr großer Wunsch war es, dass gleichgeschlechtliche Paare die gleichen Rechte haben wie alle anderen Paare. Gestern jubelten die 52 und 58 Jahre alten Frauen.
„Wir freuen uns riesig“, sagt Zilm. „Wir haben mit Kaffee und Tee angestoßen, wir trinken keinen Alkohol.“Wenn ihre derzeit fünf Pflegekinder im Alter zwischen neun und 18 Jahren am Nachmittag aus der Schule kämen, werde es wie versprochen Eisbecher geben. „Ich war aber sehr traurig, dass die Kanzlerin mit ,Nein‘ gestimmt hat“, sagt Zilm. In ihrem Landkreis ist sie zur „Frau des Jahres“gekürt worden – für ihr ehrenamtliches Engagement in der Grundschule und als Leiterin einer Selbsthilfegruppe. Nun könnten die Planungen für die Hochzeit beginnen. Ein Termin stehe noch nicht fest. Aber die Kanzlerin werde erneut eingeladen.