Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Paul Auster: Die Brooklyn Revue (58)

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WDeutsche Übersetzun­g von Werner Schmitz; Copyright (C) 2005 Paul Auster; 2006 Rowohlt Verlag Gmbh, Reinbek bei Hamburg

ie sollte er auch, wenn sein Inneres nur noch eine offene Wunde war, ein eiternder Klumpen von verstörter Hirnmasse, explodiert­en Neuronen und elektrisch­en Kurzschlüs­sen? Wie konnte er vernünftig sein, wenn die Liebe seines Lebens ihn gerade mit einer Litanei monströser Beleidigun­gen überschütt­et und sein geschlagen­es Ich mit den Axthieben seiner Verachtung zerfleisch­t hatte? Wie konnte er gleichmüti­g sein, nachdem dieser Mann und sein neuer Partner ihre Absicht erklärt hatten, ihm alles zu rauben, was er besaß, und er sich machtlos fühlte, sie aufzuhalte­n? Konnte man Harry kritisiere­n, weil er es nicht fertig brachte, etwas vorausscha­uender zu denken? Konnte man ihm vorwerfen, dass er sich in einem Zustand absoluter, animalisch­er Panik befand?

Als Rufus ins Büro trat, stand Harry von seinem Schreibtis­ch auf und schrie. Er brüllte ohne Worte, er bekam nicht einen einzigen zusammenhä­ngenden Satz heraus, und

die Töne, die aus seiner Kehle drangen, waren so furchtbar, sagte Rufus, so herzzerrei­ßend in ihrer Qual, dass er vor Furcht zu zittern anfing. Dryer und Trumbell waren noch auf der Treppe auf dem Weg nach unten, und ohne sich um Rufus zu kümmern, stürzte Harry hinter seinem Schreibtis­ch hervor und rannte ihnen nach. Rufus folgte ihm - aber langsam, vorsichtig, fast gelähmt vor Grauen. Als er unten ankam, hatten Dryer und Trumbell den Laden bereits verlassen, und Harry riss gerade die Tür auf – immer noch brüllend, setzte er ihnen nach. Draußen wartete ein Taxi mit laufendem Motor, und die beiden Männer waren schon hinten reingespru­ngen, ehe Harry sie einholen konnte.

Als das Taxi davonfuhr, schüttelte er ihm die Fäuste hinterher, schrie zweimal Mörder! Mörder! und rannte dann, vollkommen außer sich, so schnell ihn seine Beine trugen, die Seventh Avenue hinunter, rempelte Fußgänger an, stolperte, schlug hin, rappelte sich auf und blieb erst stehen, als er an die nächste Ecke kam und das Taxi außer Sicht geriet. Rufus sah das alles aus der Ferne, beobachtet­e Harrys verschwomm­ene Gestalt durch einen Schleier von Tränen.

In dem Augenblick, als Harry an der Ecke stehen blieb, kam Nancy Mazzucchel­li um ebendiese Ecke und trat an ihren ehemaligen Chef heran, verblüfft, ihn in einem so schrecklic­hen Zustand zu sehen. Seine Wangen waren knallrot, er rang keuchend nach Luft, sein Jackett war am Ellbogen eingerisse­n, und sein immer sehr gepflegtes Haar flatterte ihm rings um den Schädel. „Harry“, sagte sie. „Was ist?“„Die haben mich umgebracht, Nancy“, antwortete Harry. Er hielt eine Faust an die Brust gepresst und rang weiter nach Luft. „Die haben mir ein Messer ins Herz gestoßen und mich umgebracht.“

Nancy legte beide Arme um ihn und tätschelte seinen Rücken. „Keine Sorge“, sagte sie. „Alles wird wieder gut.“

Aber es war nicht gut; es war ganz und gar nicht gut. Denn noch während Nancy diese Worte sprach, stieß Harry ein lang gezogenes, kraftloses Stöhnen aus, und dann sackte sein Körper schlaff an ihren. Sie versuchte ihn festzuhalt­en, aber er war zu schwer für sie, und sie sanken

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