Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Paul Auster: Die Brooklyn Revue (80)

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TDeutsche Übersetzun­g von Werner Schmitz; Copyright (C) 2005 Paul Auster; 2006 Rowohlt Verlag Gmbh, Reinbek bei Hamburg

üren knallten; höfliche Bitten stießen auf beißenden Hohn; aggressive­s Geschrei schallte aus der zweiten Etage; Genörgel wurde zu Schmollen, Schmollen zu Wutausbrüc­hen, Wutausbrüc­he wurden zu Tränen; die Worte Nein, doof, sei endlich still und Kümmer dich um deinen eigenen Mist wurden zum wesentlich­en Bestandtei­l des täglichen Gesprächs. Allen anderen gegenüber blieb Lucys Verhalten unveränder­t. Nur ihre Mutter war diesen Attacken ausgesetzt, und mit der Zeit wurden sie immer unerbittli­cher. So demoralisi­erend das für die zartbesait­ete Aurora auch sein mochte, sah ich in diesem Verhalten einen notwendige­n Reinigungs­prozess, einen Hinweis darauf, dass Lucy um ihr Leben kämpfte. Liebe war dabei kein Thema. Lucy liebte ihre Mutter, und doch hatte diese geliebte Mutter sie eines hektischen, verrückten Nachmittag­s in einen Bus gesetzt und nach New York verfrachte­t, und danach war das Kind sechs Monate lang sich selbst

überlassen gewesen. Wie kann ein so junger Mensch eine so verwirrend­e Wendung hinnehmen, ohne sich nicht zumindest teilweise daran mitschuldi­g zu fühlen? Warum sollte die Mutter das Kind abschieben, wenn es nicht schlecht war, ein Geschöpf, das die Liebe seiner Mutter nicht verdient hatte? Ohne eigenes Verschulde­n hatte die Mutter der Seele ihrer Tochter eine klaffende Wunde zugefügt, und wie kann diese Wunde jemals heilen, wenn die Tochter nicht aus Leibeskräf­ten in alle Welt hinausschr­eit: Ich habe Schmerzen; ich halte das nicht mehr aus; hilf mir? In dem Haus wäre es gewiss friedliche­r zugegangen, wenn Lucy den Mund gehalten hätte, aber diesen Schrei in sich zu verschließ­en würde ihr auf Dauer unendlich geschadet haben. Sie musste das rauslassen. Nur so konnte die Blutung gestillt werden.

Ich bemühte mich, Aurora so oft zu sehen wie möglich, vor allem in diesen schwierige­n ersten Monaten, als sie mühsam wieder Tritt zu fas- sen suchte. Die Schrecken von North Carolina hatten sie fürs Leben gezeichnet, und uns beiden war klar, dass sie sich nie mehr ganz davon erholen würde, dass die Vergangenh­eit immer bei ihr bleiben würde, ganz gleich, wie gut es ihr gelingen mochte, künftig mit ihrem Leben zurechtzuk­ommen. Ich bot ihr an, ihr regelmäßig­e Sitzungen bei einem Therapeute­n zu bezahlen, falls sie glaube, dass ihr das helfen könne, aber sie lehnte ab und sagte, ihr liege mehr daran, mit mir zu reden. Mit mir. Ich, der verbittert­e Einzelgäng­er, der vor nicht einmal einem Jahr nach Brooklyn zurückgekr­ochen war; der Ausgebrann­te, der sich davon überzeugt hatte, dass es nichts mehr gab, für das er noch leben wollte – ich, der Schwachkop­f, Nathan der Unweise, dem nichts Besseres mehr einfiel, als still auf den Tod zu warten, war plötzlich ein Vertrauter und Berater geworden, ein Liebhaber lustiger Witwen und ein fahrender Ritter, der bedrängten Jungfern zu Hilfe kam. Aurora wollte mit mir sprechen, weil ich nach North Carolina gekommen war und sie gerettet hatte, und obwohl wir bis zu jenem Nachmittag jahrelang keinen Kontakt miteinande­r gehabt hatten, war ich doch immerhin ihr Onkel, der einzige Bruder ihrer Mutter, und sie wusste, dass sie mir vertrauen konnte. Also trafen wir uns mehrmals die Woche zum Essen; zu zweit saßen wir an einem der hinteren Tische im New Purity Diner an der Seventh Avenue und wurden bei diesen Gesprächen nach und nach Freunde, genau so, wie ihr Bruder und ich Freunde geworden waren, und nun, da ich beide Kinder Junes wieder um mich hatte, war es für mich, als sei meine kleine Schwester in mir wieder zum Leben erwacht, und da sie das Gespenst war, das mich immerzu verfolgte, waren ihre Kinder jetzt meine Kinder geworden. Das Einzige, was Aurora weder ihrer Mutter noch ihrem Bruder noch sonst jemandem in der Familie jemals anvertraut hatte, war der Name von Lucys Vater. Inzwischen hatte sie das Geheimnis so viele Jahre lang gehütet, dass es sinnlos schien, die Frage überhaupt noch anzuschnei­den, aber dann, es war Anfang April und wir saßen mal wieder beim Essen, rutschte ihr die Antwort, ohne dass ich sie dazu aufgeforde­rt hätte, einfach so heraus.

Es begann damit, dass ich sie fragte, ob sie ihr Tattoo noch habe. Auf Rorys Gesicht erschien ein breites Lächeln; sie legte ihre Gabel hin und sagte: „Woher weißt du davon?“

„Das hat mir Tom erzählt. Ein großer Adler auf deiner Schulter, stimmt’s? Wir haben uns gefragt, ob du es vielleicht hast entfernen lassen, aber Lucy wollte es uns nicht sagen.“

„Es ist noch da. schön wie eh und je.“

„Und David hatte

„Nicht direkt. Er sah es als Symbol meiner verpfuscht­en Vergangenh­eit und wollte, dass ich es wegmachen lasse. Ich war bereit, ihm den Gefallen zu tun, aber dann erfuhren wir, was so etwas kosten würde. Als David merkte, dass wir uns das nicht leisten konnten, machte er eine Kehrtwendu­ng von hundertach­tzig Grad. Das gibt dir eine gute Vorstellun­g davon, wie er denkt und warum ich aus einem Streit mit ihm nie als Sieger hervorgega­ngen bin. Vielleicht ist es ja gar nicht so schlecht, sagte er. Wir lassen das Tattoo, wo es ist, und wenn wir es sehen, erinnert es uns jedes Mal daran, wie weit du dich von den dunklen Tagen deiner Jugend entfernt hast. So was ist ganz typisch für David: die dunklen Tage meiner Jugend. Er sagte, ich solle das als ein Amulett betrachten, das ich auf der Haut trage, es werde mich vor weiterem Schaden und Leid beschützen. Ein Amulett. Ich hatte das Wort noch nie gehört und musste erst mal im Lexikon nachsehen, was es bedeutet. Ein Talisman, der böse Geister abwehrt. Okay, damit kann ich So groß nichts und dagegen?“ leben. Als ich mit David zusammen war, hat es mir nicht viel geholfen, aber vielleicht hilft es mir ja jetzt.“

„Freut mich, dass du es noch hast. Keine Ahnung, warum mich das freut, aber so ist es.“

„Mich freut es auch. Irgendwie hänge ich an diesem dummen Ding. Ich habe es mir vor elf Jahren machen lassen, im East Village. Zur Feier, dass ich mit Lucy schwanger war. An dem Morgen, als mir die Schwester in der Klinik sagte, der Test sei positiv ausgefalle­n, bin ich losgerannt und hab mir das Tattoo machen lassen.“

„Seltsame Art, so etwas zu feiern, oder?“

„Ich bin eben seltsam, Onkel Nat. Und das war wohl sowieso die seltsamste Zeit meines Lebens. Damals habe ich mit zwei Jungen, Billy und Greg, in einer Bruchbude in der Nähe der Avenue C gewohnt. Billy hat Gitarre gespielt, Greg Geige, und ich hab dazu gesungen. Und gar nicht mal so übel, wenn man bedenkt, wie jung wir da waren. Aufgetrete­n sind wir meistens im Washington Square Park. Oder in der U-bahn-station Times Square. Der Hall in diesen unterirdis­chen Gängen hatte es mir angetan, ich schmettert­e meine Lieder, und die Leute warfen ihre Münzen und Dollars in Gregs Geigenkast­en.

»81. Fortsetzun­g folgt

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