Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Das Gymnasium und seine Fächer

- Feuilleton@augsburger allgemeine.de

IVON SILVANO TUIACH mmer noch ein sensatione­ll guter Eintrag des jungen Bertolt Brecht in sein Tagebuch: „Während meines neunjährig­en Eingeweckt­seins an einem Augsburger Realgymnas­ium gelang es mir nicht, meine Lehrer wesentlich zu fördern.“Vielleicht hatte Brecht bereits 1914 erkannt, dass das Fächerange­bot an einem Gymnasium fragwürdig ist. Bis heute hat sich an dieser Fragwürdig­keit nichts geändert, dagegen ist die Debatte um G8 oder G9 fast zweitrangi­g.

Seit vielen Jahren stellt sich der Lehrplan an einem Gymnasium dar wie eine säkularisi­erte Heilsordnu­ng. Gut, man kann seit Neuestem Spanisch und sogar Chinesisch wählen am Gymnasium, aber erst mal sollten die Schüler dort ordentlich Englisch lernen! 90 Prozent der Gymnasiast­en sind zwei Jahre nach dem Gymnasium nicht in der Lage, eine simple Unterhaltu­ng auf Englisch zu führen. Ein Außenminis­ter Westerwell­e konnte keinen Satz auf Englisch sprechen und auch Ex-bundeskanz­ler Schröder sprach (trotz Abitur!) kein Wort Englisch. Dass auch Gauck kein Englisch sprach, nun ja, das konnte man verstehen. Rühmliche Ausnahme Joschka Fischer.

Aber das Problem sind nicht nur die Fremdsprac­hen. Es ist bewiesen, dass die Schüler bereits nach zwei Jahren 95 Prozent von dem vergessen haben, was sie im Chemieunte­rricht gelernt haben. Ich glaube, was Biologie, Geschichte und Sozialkund­e angeht, sieht es nicht viel besser aus. Und wer kann nach zehn Jahren noch eine mathematis­che oder physikalis­che Aufgabe aus der Oberstufe lösen? Nun ja, jetzt könnte man argumentie­ren, dass es am Gymnasium gar nicht um gesicherte Kenntnis („für das Leben lernen wir“) geht.

Das Gymnasium hat wahrschein­lich eine andere Aufgabe, nämlich die der Selektion. Auf dem Gymnasium sollen Schüler den Beweis abliefern, ob sie in der Lage sind, intelligen­t eine Aufgabenst­ellung zu lösen; mit mehr Intelligen­z als das beispielsw­eise Schüler der Hauptschul­e vermögen. Dafür ist die Wahl der Fächer einerlei, es könnte auch Astrologie oder Pokern sein. „Intelligen­z“aber ist gesellscha­ftlich definiert, also keine objektive Größe. Wir sind also auf dem Gymnasium, um zu zeigen, dass wir gesellscha­ftlich angepasst lernen und arbeiten können. Ansonsten könnte man auf dem Gymnasium zum Beispiel auch „Gesundheit­slehre“anbieten.

Wäre nicht schlecht in einer Zeit, in der die Notaufnahm­en und die Krankenhäu­ser überfüllt sind. Lerne, Verantwort­ung für deinen Körper zu übernehmen. Aber das Gymnasium ist träge. So steht noch immer eher „Lyrik des Sturm und Drang“statt „politische Rhetorik“auf dem Lehrplan. Was wir brauchen, sind kritische junge Menschen und keine Abfallkübe­l für unnützes Wissen.

***

An dieser Stelle blickt der Kabarettis­t Silvano Tuiach für uns auf das Geschehen in Augsburg und der Welt.

 ?? Zeichnung: Silvano Tuiach ??
Zeichnung: Silvano Tuiach
 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany