Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Erdogan will eine offene Flanke schließen
EVON WINFRIED ZÜFLE rst ließ er ganze Stadtviertel zu Ruinenfeldern zusammenschießen, jetzt soll alles wieder aufgebaut werden – an der Sinnhaftigkeit der Kurdenpolitik des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan sind erhebliche Zweifel angebracht.
Sein Ziel, die militante kurdische Arbeiterpartei PKK auszuschalten, hat der Staatschef auch mit dem Militäreinsatz im eigenen Land in den Jahren 2015 und 2016 nicht erreicht. Die Untergrundkämpfer machen sich weiter mit Terroranschlägen bemerkbar. Zudem hat Erdogan der Zivilbevölkerung im Kurdengebiet viel Leid zugefügt.
Aber auch die PKK hat Kredit verspielt, weil sie sich nicht aus den Städten zurückgezogen und auf diese Weise die Bevölkerung als menschliche Schutzschilde missbraucht hat. Das hat, entgegen allen Erwartungen, nicht wenige Kurden auf Erdogans Seite getrieben.
Die meisten Einwohner wollen indes nichts anderes als in Frieden leben. Sie verstehen nicht, warum der Aussöhnungsprozess zwischen dem türkischen Staat und ihrer Volksgruppe, der so hoffnungsvoll begann, jäh zu Ende gegangen ist. Die Schuld daran tragen sowohl Erdogan als auch die PKK.
Seit dem Militärputsch im Juli vergangenen Jahres führt Erdogan einen Feldzug gegen die Anhänger des Predigers Gülen, mit dem er selbst früher eng vernetzt war. Gleichzeitig setzt er die Grundrechte außer Kraft und wrackt die Demokratie ab. Damit hat er das Land entlang einer neuen Schnittlinie gespalten.
Jetzt will Erdogan die Kurden wieder besänftigen, um wenigstens diese offene Flanke zu schließen. Aber Neubauprogramme werden dafür nicht genügen. Er muss auch, so schwer ihm das fallen mag, die demokratische Kurdenpartei HDP und ihre gewählten Vertreter wieder zulassen.
Um auch 2019 davon profitieren zu können, muss Erdogan den angekündigten Wiederaufbau auf den Weg bringen. Nicht nur in Nusaybin wird deshalb gebaut, was das Zeug hält. Auch in den Städten Silopi, Sirnak, Cizre und Idil werden ganze Neubaugebiete für die vertriebenen Bewohner hochgezogen. In der Provinzhauptstadt Mardin wird an einer überfälligen Durchgangsstraße gebaut, in der Kreisstadt Midyat entstehen vierspurige Ausfallstraßen.
60 000 kurdische Flüchtlinge saßen im Frühjahr vergangenen Jahres noch in Midyat auf den Straßen und in den Parks, während ihre Häuser in den umliegenden Städten in Schutt und Asche geschossen wurden. Heute ist es wieder ruhig in der Kreisstadt, in der die letzten assyrischen Christen der Türkei zu Hause sind. Nachts laufen Familien mit Kindern fröhlich plaudernd durch die dunklen Straßen von den Kirchenfesten zurück, die wegen der extremen Hitze erst nach Sonnenuntergang beginnen. Hier und da spielt Musik, wird bei einer kurdischen Hochzeit oder christlichen Taufe unter freiem Himmel getanzt. „Sicher ist der Ausnahmezustand nicht erfreulich, aber zumindest gibt es Ruhe und Sicherheit“, sagt ein christlicher Anwohner.
Nach Ruhe und Frieden sieht es auf den ersten Blick auch in einem Teegarten der Provinzhauptstadt Mardin aus, wo Familien und Freunde bei Sonnenuntergang die Brise genießen. Doch dann begleiten schwer bewaffnete Männer in kugelsicheren Westen einen älteren Herrn an seinen Tisch. Es ist die Leibwache des örtlichen Akp-abgeordneten Orhan Miroglu, einem kurdischen Schriftsteller. Er will dort seinen Tee trinken – kann das aber selbst im Wahlkreis nicht ohne großes Sicherheitsaufgebot tun.
Während Miroglu seinen Tee trinkt, sitzt eine andere Abgeordnete dieses Wahlkreises seit Monaten hinter Gittern – sie gehört der kurdischen Partei HDP an. Und die Stadt Mardin selbst, in der die HDP bei der letzten Kommunalwahl die Mehrheit errang, steht seit einem dreiviertel Jahr unter staatlicher Zwangsverwaltung; der gewählte Hdp-bürgermeister saß monatelang im Gefängnis.
Von dem Teegarten auf der Anhöhe von Mardin geht die Aussicht über die nahe Grenze nach Syrien, wo die PKK derzeit mit ihrer Schwesterorganisation YPG und dem syrischen Bürgerkrieg beschäftigt ist. Ein wahrer Frieden ist auch in der Südosttürkei nicht in Sicht.