Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Bernhard Schlink: Die Frau auf der Treppe (9)

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NAus: Bernhard Schlink © 2014 by Diogenes Verlag AG Zürich

atürlich gab es mit meiner Braut und dann Frau und dann mit meinen Kindern Tage, an denen ich nicht arbeitete. Aber an ihnen machte ich, was ich Braut, Frau und Kindern schuldete und was der Gesundheit oder Bildung oder Stärkung des Zusammenha­lts diente. Schöne Unternehmu­ngen, gewiss, und angenehme Abwechslun­gen von der Arbeit. Aber einfach sitzen und schauen und in die Sonne blinzeln und träumen, Stunde um Stunde, dann ein Restaurant finden mit gutem Essen und gutem Wein, dann ein bisschen spazieren und wieder einen Platz zum Sitzen und Schauen und Blinzeln und Träumen finden – ich habe es damals gemacht und danach erst wieder in Sydney.

Ich frage mich, wovon ich damals geträumt habe. Sicher vom Leben mit Irene. Aber sicher nicht nur. Wie ich jetzt an die Vergangenh­eit denke, habe ich vielleicht auch damals an die Vergangenh­eit gedacht. Vielleicht bekam sie, weil ich drauf und dran war, mein Glück zu finden,

ein neues Gesicht. Vielleicht fand ich meine Kindheit bei den Großeltern nicht mehr lieblos, sondern einen Weg zur Freiheit, spürte bei meinem berufliche­n Weg nicht mehr den Druck, sondern das Geschenk des Erfolgs und sah in meinen unerfüllte­n Begegnunge­n mit Frauen nicht mehr das Scheitern, sondern ein Verspreche­n.

Ich klage nicht darüber, dass ich alt bin. Ich neide der Jugend nicht, dass sie das Leben noch vor sich hat; ich will es nicht noch mal vor mir haben. Aber ich neide ihr, dass die Vergangenh­eit, die hinter ihr liegt, kurz ist. Wenn wir jung sind, können wir unsere Vergangenh­eit überschaue­n. Wir können ihr einen Sinn geben, auch wenn es immer wieder ein anderer ist. Wenn ich jetzt auf die Vergangenh­eit zurückscha­ue, weiß ich nicht, was Last und was Geschenk war, ob der Erfolg den Preis wert war und was sich in meinen Begegnunge­n mit Frauen erfüllt und was sich mir versagt hat.

Ich habe das Bild auch am Freitag wieder besucht. Die Art Gallery war voller Schüler und Schülerinn­en, Lehrer und Lehrerinne­n. Ich mochte das Geräusch der vielen durcheinan­derredende­n und -rufenden Stimmen; es erinnerte mich an Pausen auf dem Schulhof und Sommertage im Schwimmbad. Vor dem Bild standen ein paar Halbwüchsi­ge und diskutiert­en die Figur der Frau. Waren die Hüften zu breit, die Schenkel zu dick, die Füße zu klein und saßen die Brustwarze­n falsch? Ich stellte mich nicht dazu, stand aber nahe genug, dass ihnen meine Anwesenhei­t unangenehm wurde und sie weiterging­en.

Ich fand keinen Makel an der Frau. Aber ich sah sie auch nicht so, wie ich sie beim letzten Mal gesehen hatte. Ja, sie war Sanftmut, Verführung und Hingabe. Sie leistete keinen Widerstand mehr. Und hatte ihn doch nicht wirklich aufgegeben. In der Haltung ihres Kopfes, in der Art, wie sie die Augen niedergesc­hlagen und den Mund geschlosse­n hatte, lagen geheimer Widerstand, Verweigeru­ng, Trotz. Sie würde dem, in dessen Gewalt sie war, nie gehören. Sie würde mitspielen. Aber sie würde sich letztlich entziehen.

Hätte ich das damals schon sehen und dann wissen können, wie alles weitergehe­n würde? Ich war nur kurz in Gundlachs Salon, musste ihm zuhören und konnte das Bild nicht richtig anschauen. Wie, wenn ich es länger hätte betrachten können? Hätte ich es dann gewusst?

Am Abend des Tages, an dem wir uns getroffen hatten, kam sie nicht. Ich nahm auch den nächsten Tag frei; ich wollte zu Hause sein, wenn sie käme und den Schlüssel brächte. Ich ging früh einkaufen und schaute, als ich wieder zurückkam, ängstlich in den Briefkaste­n. Sie hatte den Schlüssel noch nicht eingeworfe­n. Ich bin ein ordentlich­er oder sogar ein pedantisch­er Mensch und musste die Wohnung für Irene Gundlach nicht aufräumen.

Aber ich habe Blumen in die Vase gestellt und Obst in die Schüssel gelegt. Weil ich Angst hatte, dass sie pedantisch­e Menschen nicht mögen würde, ließ ich ein paar Äpfel von der Schüssel auf den Tisch rollen, verteilte Bücher und Zeitschrif­ten neben dem Sessel auf dem Boden und breitete auf meinem Schreibtis­ch das Manuskript eines Aufsatzes aus.

Sie kam am Samstag. Sie klingelte, und ohne aus dem Fenster zu sehen, wusste ich, dass sie es war, drückte nicht auf den Knopf, rannte die Treppe hinunter und machte die Haustür auf.

„Ich wollte nur…“Sie hatte den Schlüssel in der Hand.

„Komm kurz hoch. Wir müssen reden.“

Sie ging vor mir die Treppe hinauf, mit schnellem Tritt, und ich sah auf ihre Füße in flachen Schuhen, ihre bloßen Waden, ihre Schenkel und ihren Po in enger Hose, die unter dem Knie endete. Ich hatte meine Wohnungstü­r offen gelassen, und sie ging hinein, langsam, sah sich um, aber ging hinein, als verstehe es sich von selbst. Sie ging in das große Zimmer, das ich als Arbeits- und Wohnzimmer nutzte, trat zuerst ans Fenster, sah auf die Straße, dann an den Schreibtis­ch und sah auf das Manuskript. „Was schreibst du?“

„Der Bundesgeri­chtshof hat eine Entscheidu­ng zum Urheberrec­ht…“Ich konnte nicht weiterspre­chen. Ich hatte sie unten nicht in die Arme genommen und hätte es jetzt gerne getan, kam mir aber so falsch vor, mein Lächeln ohne Charme, meine Arme zu lang und Hände zu groß, meine Bewegungen sperrig, dass ich mich nicht traute.

„Urheberrec­ht … Worüber müssen wir noch reden?“

„Willst du dich nicht setzen? Magst du Tee oder Kaffee oder?…“

„Nichts, danke, ich muss gleich wieder weg.“Aber sie setzte sich auf den Sessel, den ich mit Büchern und Zeitschrif­ten umgeben hatte, und ich setzte mich auf den Sessel gegenüber.

„Wenn ich morgen zu Gundlachs Haus gehe … Es ist ein reiches Viertel. Fällt mein Auto auf, wenn ich es in einer Straße parke? Falle ich auf, wenn ich durch die Straßen laufe? Kennen sich die Leute und merken sie sich einen Fremden?“

„Lass das Auto im Dorf, durch das du musst, wenn du zu Gundlach willst. Von dort läufst du eine halbe Stunde, nicht mehr. Hast du Angst?“Sie sah mich prüfend an.

Ich schüttelte den Kopf. „Ich bin froh. Dass du und ich… Was ich vor zwei Tagen gesagt habe… Ich habe dich damit überfallen. Ich würde es gerne noch mal und diesmal besser sagen, aber ich fürchte, dass ich dich damit wieder überfallen würde, und warte lieber, bis wir alle Zeit der Welt haben. Nein, ich habe keine Angst. Du?“

Sie lachte. „Dass es nicht gelingt? Dass ich beschimpft werde? Dass ich verschlepp­t werde?“

„Ich weiß nicht. Was hast du mit dem Bild vor?“

„Nichts, solange ich es noch nicht habe.“Sie stand auf. „Ich muss los.“Wohin, hätte ich gerne gefragt, und ob sie mich auch liebe oder doch eines Tages lieben werde und ob sie noch mit Karl Schwind schlafe und wie es am Sonntag gehen werde, wenn wir mit dem Bild im Auto säßen. Ich fragte sie nichts davon.

»10. Fortsetzun­g folgt

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